Winters Schmerz

Winter Black Serie: Band 1

Unter den Augen eines Killers …


Vor dreizehn Jahren kam Winter Black, die bei einer Freundin übernachten wollte, verfrüht nach Hause zurück und fand ihre Eltern brutal ermordet im Bett vor, während ihr kleiner Bruder verschwunden war – entführt von einem Serienmörder, dem man den Namen der Preacher gegeben hatte.

In ihrer Rolle als junge FBI-Agentin, die gerade in ihrem ersten Mordfall ermittelt, ist Winter nun wieder in ihre kleine Heimatstadt zurückgekehrt. Doch als von einem Jäger gefundene Menschenknochen zur Entdeckung mehrerer Skelette von Kindern führen, die im Wald verscharrt wurden, rücken die Ermittlungen ihr plötzlich ganz nahe, da mit jeder neuen, schockierenden Entdeckung die Vergangenheit ihr Haupt erhebt. Wird als Nächstes das Skelett ihres Bruders auftauchen?

Das weiß nur der Preacher, doch er wird alles tun, um die Vergangenheit – und ihre Geheimnisse – unter der Decke zu halten, bis er zum letzten Akt bereit ist.

Ein meisterhaft erdachter psychologischer Thriller, der an Lisa Jackson, Harlan Coben und Karin Slaughter erinnert. Winters Schmerz wird den Leser bannen, der – mit ängstlichen Blicken zum Fenster – das Buch bis lange nach Mitternacht nicht aus der Hand legen wird.

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Lesen Sie einen Auszug

Vorher

Als eine weitere Wehe das Mädchen erfasste, war der Schmerz wie etwas Lebendiges, das sie ganz ausfüllte.

„Helfen Sie mir.“

Es war ein Flüstern. Es war ein Gebet.

Der Beobachter, der außerhalb des Käfigs stand, beachtete es nicht.

Beim Pressen – ihr junger Körper schien zu wissen, was er tun musste – wurde das Brennen zwischen ihren Schenkeln noch heftiger. Der Schmerz ließ nach, aber er würde wiederkommen, das wusste sie. Und er kam wieder.

Wie war sie hier gelandet?

Ein dummer Streit mit ihren Eltern. Sie war so auftrumpfend gewesen, so überzeugt, dass sie sich in allem, worauf es im Leben ankam, auskannte. Sie war erwachsen. Zum Teufel, sie hatte sogar mit Scotty Jernigan geschlafen, dem Captain des Football-Teams.

Mit sechzehn hatte sie geglaubt zu wissen, wo es langging.

„Ich hasse euch!“

Das waren die letzten Worte gewesen, die sie dem Mann und der Frau entgegengeschleudert hatte, denen sie ihre Existenz verdankte. Dann war sie aus dem Haus gestürmt, fest entschlossen, von nun an alles nach ihrem eigenen Kopf zu machen.

„Es tut mir so leid“, flüsterte sie den Gesichtern zu, die ihr vor dem inneren Auge standen. Und das stimmte. Es tat ihr ganz entsetzlich leid.

Sie wollte noch mehr sagen, als könnten die beiden ihr Flehen dort, wo sie in weiter Ferne waren, auffangen und vielleicht wie durch ein Wunder den Weg zu ihr finden. Denn sie brauchte sie. Nicht nur körperlich, sondern in jeder nur denkbaren Hinsicht. Doch bevor sie sie um Vergebung bitten konnte, hatte der Schmerz sie erneut im Griff.

Sie presste, kämpfte mit zusammengebissenen Zähnen.

In den Filmen gab es immer eine Hebamme, die bis zehn zählte. Einen Ehemann, der liebevoll das Bein seiner Frau stützte. Und einen Arzt, der sich bereithielt, um das Baby anzunehmen und einzugreifen, falls etwas schieflief.

Und hier lief etwas schief, furchtbar schief.

„Helfen Sie mir“, sagte sie, als die Wehe nachließ.

Der Beobachter reagierte nicht. Sagte kein Wort. Rührte sich nicht.

Das Brennen nahm an Heftigkeit noch zu, und sie blickte an sich hinunter, überzeugt, dass ihre Scheide in Flammen aufgegangen war. Doch statt roter Glut … erblickte sie den Ansatz eines Köpfchens, auf dessen Kuppe sich dunkles, nasses Haar kringelte.

Sie brach in Tränen aus und berührte das Kind zum ersten Mal.

Ein Baby.

Selbst als ihr Bauch im Laufe der Monate immer dicker geworden war, hatte es sich nicht real angefühlt. Die Übelkeit. Die Erschöpfung. Die Gelüste. Die Kindsbewegungen unter der Bauchdecke.

Jetzt war es anders. Echt und wirklich.

Erneut legte sich der Schraubstock um ihren Bauch und lenkte ihre Aufmerksamkeit vom Wunder des Kindes zurück zum Schmerz. Zu dieser furchtbaren, grauenhaften, ihren Körper zerreißenden Pein.

Sie presste wieder und wieder und schrie während der Wehe. Der Druck wurde größer. Schwoll an. Erblühte.

Dann war es vorbei.

Zwischen ihren Beinen lag das blutige, zappelnde Kind.

Ein Mädchen.

Mit zitternden Händen griff sie danach, versetzte ihm einen Klaps auf den Po und säuberte seinen Mund mit den Fingern. Ihr Fimmel für Krankenhaus-Dokus zahlte sich aus.

Ein Weinen war zu hören. Zunächst leise. Dann wurde es lauter, da Verwirrung und Zorn der Kleinen angesichts der neuen Welt, in der sie sich wiederfand, größer wurden.

„Schsch …“, beruhigte das Mädchen den Säugling und schob ihm einen Finger in den Mund. Sie lächelte, als die Kleine daran saugte. „So ist es recht, meine Süße. Ich passe auf dich auf … ohhh …“

Diesmal überfiel der Schmerz sie unerwartet. Sollte das nicht vorbei sein? Mühsam hinderte sie sich daran, den Säugling zu fest an sich zu pressen, während sie mit zusammengebissenen Zähnen aufschrie.

Das Baby weinte wieder, und sie legte es neben sich ab.

War noch ein zweites Kind unterwegs? Bekam sie Zwillinge? War das denkbar?

Doch als sie zwischen ihre Beine schaute, sah sie, dass nur eines aus ihr herauskam, nämlich Blut. Ein Strom von Blut.

Erneut von Panik erfasst, sah sie den Beobachter an. „Bitte helfen Sie mir!“, schrie sie ganz im Griff von Schmerz und Angst.

Von Hoffnung erfüllt, beobachtete sie, wie der Schlüssel ins Käfigschloss geschoben wurde, und hörte das metallische Klicken des Mechanismus. Nun kam also doch noch Hilfe.

„Perfekt“, flüsterte der Beobachter ehrfürchtig. Mit Händen, die in Handschuhen steckten, hob er die Neugeborene auf und musterte sie von Kopf bis Fuß. „Einfach vollkommen.“

Das Mädchen war inzwischen sehr geschwächt, reckte sich aber dennoch verzweifelt nach ihrem Kind. „Gib sie mir.“

Mit einem kalten Ausdruck, der sie erschauern ließ, wanden sich die Augen ihr zu.

Als hätte das einmalige Erschauern eine ganze Lawine des Schreckens ausgelöst, begann sie heftig zu zittern.

So viel Blut. So viel Schmerz.

Würde es jemals aufhören?

Sie blickte erneut auf den Beobachter und umklammerte seinen langen schwarzen Mantel, dessen Saum nur Zentimeter von ihrem Lager entfernt war. „Helfen. Sie. Mir.“ Sie schluckte die Tränen herunter. „Bitte.“

Der Beobachter legte das Kind weg. Eine Schere tauchte auf, ebenso zwei Kunststoffklammern, und das Mädchen verfolgte gebannt, wie er mit seinen behandschuhten Händen die Nabelschnur durchschnitt und das Baby endgültig von ihr abtrennte. Beinahe hätte sie geweint, als dieses Band zu ihrem Kind Vergangenheit war.

Mit ähnlich raschen Bewegungen hüllte der Beobachter den winzigen Säugling in eine Decke und schob ihm einen Schnuller in den Mund. Die ganze Zeit flüsterte er dabei: „Vollkommen“ und „Ich habe es geschafft“. Er brabbelte noch mehr, doch das konnte sie nicht verstehen.

Als sie wieder aufschrie, weil der Schmerz sie erneut wie mit Messern stach, wandte der Beobachter sich ihr zu.

„Ich lasse dich nicht leiden.“ Er zog etwas aus der Tasche seines langen Mantels, und sie erkannte sofort, was da metallisch blitzte.

Nein.

Noch während ihr das Wort durch den Kopf hallte, warf sie einen letzten Blick auf ihr Kind. Sie spürte den Druck des kalten Stahls am Hinterkopf und schloss die Augen.

Ein Klicken. Dann nichts mehr.

Der Beobachter hatte Wort gehalten.


Erstes Kapitel

Winters Hand zitterte heftig, dann verloren ihre Finger alle Kraft und ließen das Beweisstück, das sie gerade eben noch umklammert hatten, unvermittelt fallen. Das Foto landete mit dem Bild nach oben auf dem Boden. Vom schmuddeligen, dunkelgrünen Teppich des billigen Motels schaute das Gesicht eines kleinen Jungen zu ihr auf. Das Foto war entstanden, nachdem die Eltern des kleinen Jungen ermordet worden waren und der Mörder ihn entführt hatte, und in seinen weit aufgerissenen Augen vereinten sich Unschuld und Angst.

Winter bekam kaum Luft.

Justin. Ihr kleiner Bruder.

Winter ließ sich aufs Bett sinken, dessen durchgelegene Matratze unter ihrem Gewicht nachgab, und versuchte, ihr heftiges Keuchen zu beherrschen. Sie beugte sich vor und legte die Stirn auf die Knie.

Ein und aus, sagte sie sich. Langsam. Ruhig. Einatmen. Ausatmen.

Sie musste einen klaren Kopf bekommen. Sich konzentrieren.

Doch in diesem Moment war die Trauer überwältigend.

Sie wartete ab, bis das schwarze Flimmern am Rande ihres Gesichtsfelds sich gelegt hatte und sie nicht länger japste. Sie war doch nicht mehr das dreizehnjährige Kind von einst, sondern eine FBI-Agentin. Sie riss sich zusammen, beugte sich vor und hob das Foto wieder auf.

Das Foto selbst schien alt zu sein. Es war ein Polaroidfoto. Polaroid stellte zwar noch immer Kameras und Filme her, doch die Farben auf dem Foto wirkten verblasst. Vergilbt. Der weiße Streifen am unteren Rand war nicht beschriftet, aber oben gab es ein winziges Loch. War das Bild irgendwo festgepinnt worden?

Bei diesem Gedanken durchfuhr sie erneuter Schrecken. Schoss der Preacher von allen seinen Opfern Fotos? Hängte er sie an einer Pinnwand auf, einer richtiggehenden Ruhmeswand, um immer wieder die Erinnerungen an die brutalen Morde zu genießen, die er in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren begangen hatte?

Das Gesicht ihres sechsjährigen Bruders war bleich, und er hatte einen Schmutzfleck auf der Wange. Justins blaue Augen waren geweitet und blickten verwirrt. Er trug denselben Schlafanzug mit SpongeBob-Aufdruck, den ihre Mutter ihm nach dem abendlichen Bad angezogen hatte. Gleich darauf hatte Winter damals das Haus verlassen, weil sie bei einer Freundin übernachten wollte.

„Gute Nacht, Winter.“ Sie meinte geradezu, seine Stimme zu hören. „Schlaf gut und lasss dich nicht von den Schlafläusssen beisssen.“ Damals waren ihm gerade zwei Schneidezähne ausgefallen, und als freche ältere Schwester hatte sie ihn wegen seines Lispelns gnadenlos gehänselt.

Wieder traf die Trauer sie mit der Wucht einer Kugel, die jede Schutzweste durchschlägt, mitten in die Brust. Winter begegnete dem Schmerz mit fest zusammengepressten Lidern. Es half nichts. Er war unerträglich.

Sie erinnerte sich an den Geruch von Johnson’s Baby Shampoo. Justin hatte ihr die Arme um die Taille geschlungen und sie fest an sich gedrückt. Weil Winter unbedingt zu ihrer besten Freundin Sam wollte, war sie ungeduldig gewesen. Sie hatten vorgehabt, die halbe Nacht auf dem Sender Syfy einen blutrünstigen Halloween-Film nach dem anderen zu schauen, sich mit von Butter triefendem Mikrowellenpopcorn vollzustopfen und über Jungs zu reden.

Und so hatte sie Justin keineswegs besonders fest an sich gedrückt, sondern sich einfach seinen molligen Ärmchen entwunden, ihm einen schnellen Kuss auf das vom Bad noch feuchte Haar gedrückt und auf dem Weg zur Tür „Nacht, Zwerg“ gerufen.

Wieder der quälende Schmerz. Es war die letzte Umarmung ihres einzigen Geschwisters gewesen, und heute bereute sie, als Teenager so kühl gewesen zu sein.

So oft schon hatte sie sich gewünscht, sie wäre damals zu Hause geblieben. Dann wäre sie jetzt allerdings tot. Sie wäre wie ihre Eltern im Bett abgeschlachtet worden. Oder wie ihr Bruder entführt.

Therapeuten hatten ihr später mit ihren beruhigenden, gelassenen Stimmen ständig gut zugeredet: Es hätte nichts geändert, wenn sie in jener Nacht zu Hause gewesen wäre. Ein Fremder, ein Psychopath, ein Serienmörder habe ihre Familie aus unbekanntem Grund aufs Korn genommen, und Winters Anwesenheit hätte das Ergebnis nicht abwenden können.

Wieder und wieder sagte man ihr, sie habe Glück, noch am Leben zu sein. Sie nickte dann und tat so, als hätte sie sich überzeugen lassen. Sie wusste, dass sie unter einem klassischen Fall von Überlebensschuld-Syndrom litt, aber sie würde sich niemals verzeihen, dass sie das Haus verlassen hatte.

Obwohl sie noch in derselben Nacht zurückgekehrt war, war sie doch zu spät gekommen.

Samantha und sie hatten sich über einen dämlichen Jungen gestritten, dessen Name ihr erst vor Kurzem wieder eingefallen war. Erbost hatte sie um zwei Uhr morgens Sams Haus verlassen und war über den windigen, laubbedeckten Bürgersteig davongegangen. Daheim herrschte zur dunkelsten Stunde der Nacht eine unheimliche Stille. Die Tür zum Zimmer ihrer Eltern war nur angelehnt, und ein schwacher Lichtstreifen fiel in den Flur. Ein einziger, entsetzter Blick offenbarte ihr das Schlachthaus, in das das Schlafzimmer sich verwandelt hatte. An der Wand sah sie rote Kreuze. Judas 14-15 stand dort mit Blut geschrieben. Dann erhielt sie von hinten einen so kräftigen Schlag auf den Kopf, dass sie eine Weile ins Koma fiel und ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt.

Jahre später machte Winter es sich noch immer zum Vorwurf, ihre Familie nicht gerettet zu haben.

Als würde die Erinnerung an ihre Kopfverletzung ihr helfen, ihren lähmenden Kummer zu überwinden, verloren die Einzelheiten des schäbigen Motelzimmers, in dem sie sich befand, ihren grauen Schleier und nahmen eine leuchtend bunte Klarheit an. Sie war nach dieser Nacht nicht hilflos zurückgeblieben. Als sie aus dem Koma erwachte, besaß sie einige neue Fähigkeiten und ein Ziel: den Mörder zu fassen, der ihre Familie zerstört hatte.

Jetzt war sie ganz kalt und klar im Kopf und musterte Justins Polaroid mit bewusster Distanz. Aufs Äußerste konzentriert, prägte sie sich die Bäume im Hintergrund des Bildes ein – Baumart und Wuchs - und überlegte, wie sie ein Jahrzehnt später wohl aussehen mochten. Sie legte sich den Blickwinkel der Kamera zurecht, schätzte nach der Länge der Baumschatten die ungefähre Tageszeit und speicherte jedes noch so winzige Detail des Fotos in ihrem Gedächtnis, bis es sich ihr unauslöschlich eingeprägt hatte.

Sollte sie jemals auf diesen Ort stoßen, würde sie sich daran erinnern.

War ihr eigentlich gar nicht bewusst, dass sie den Vorhang offen gelassen hatte?

Heutzutage kannten die Frauen keine Scham mehr.

Ich brauchte nicht einmal die Minikamera, die ich zuvor hinter dem absolut scheußlichen Gemälde über dem Fernseher platziert hatte. Selbst von hier draußen auf dem Parkplatz konnte ich sehen, welche Stimmungen über ihr Gesicht zogen. Angst. Zorn.

Und durch das Fernglas, das ich mitgebracht hatte, erkannte ich auch das: Trauer.

Ach, diese Tränen. Sie ließen mein Herz so schön klopfen und pochen wie schon seit langer, langer Zeit nicht mehr. Ich hätte sie am liebsten abgeleckt. Hätte ihr am liebsten das salzige Nass von den glatten, bleichen Wangen gelutscht. Die Unschuld gekostet, die in diesen Tränen lag. Wahrscheinlich fing die Kamera die silbrigen Tränenspuren in HD ein. Ich würde mir das Video für später aufheben. Später, wenn ich es richtig genießen könnte.

Das magere kleine schwarzhaarige Mädchen mit den unheimlichen blauen Augen war zu einer Schönheit herangewachsen. So schön wie ein gemaltes Bild, genau wie ihre Momma. Und inzwischen war sie beim FBI. Das erschien mir passend.

Kichernd schabte ich geistesabwesend mit dem Fingernagel über einen Schneidezahn, während ich verfolgte, wie sie das Geschenk betrachtete, das ich extra für sie zurückgelassen hatte.

Inzwischen war ich offiziell im Ruhestand. Und zwar schon seit Jahren. Aber als ich jetzt die junge Frau in dem einsamen Motelzimmer beobachtete, reizte es mich, ihr einen Besuch abzustatten. Den Kreis zu schließen.

Nein …

Noch nicht.

Als sich die Tür eines anderen Motelzimmers öffnete, ließ ich das Fernglas auf den Schoß sinken. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit kurz geschnittenem dunklem Haar trat heraus und ließ den Blick über den nahezu leeren Parkplatz schweifen. Der Partner der FBI-Schönen. Nein, jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt.

Ich beobachtete, wie der FBI-Mann zu Winters Tür ging und wie sein Klopfen sie aufschreckte. Mit geweiteten Augen bückte sie sich dann rasch, als versteckte sie etwas. Wahrscheinlich schob sie das Foto unter die Matratze. Wieder entschlüpfte mir ein erfreutes Kichern, und mein Pick-up sprang mit dem üblichen Rumpeln und einer Abgaswolke an, als ich den Zündschlüssel im Schloss drehte.

Recht so, Mädel. Behalt es für dich. Ein Geheimnis nur zwischen uns. Es bleibt sozusagen in der Familie.

Ich hatte sie während all der Jahre so genau beobachtet, dass sie mir wirklich wie ein Familienmitglied vorkam. Der FBI-Mann schaute kurz aus dem Fenster auf den Parkplatz und zog dann den Vorhang zu.

Ich machte mir keine Sorgen. Dafür gab es keinen Grund. Sie waren nicht meinetwegen in Harrisonburg.

Wahrscheinlich würden sie bumsen, die Sünder. Das würde mich zornig machen. Sehr zornig.

Nein, Zorn konnte ich mir nicht erlauben. Noch nicht.

Ich blickte auf die Szene hinunter, die sich auf meinem Handy abspielte, beobachtete den FBI-Mann kurz dabei, wie er mit der blauäugigen Frau redete, und wünschte, ich hätte mir die Zeit genommen, zusätzlich eine Wanze im Motelzimmer anzubringen. Vielleicht ein andermal.

Ich legte den Rückwärtsgang ein, und das Getriebe knirschte, als ich langsam zurücksetzte.

Heute Abend war es noch nicht so weit. Ich musste erst eine Menge erledigen, bevor ich mich erneut mit meinem blauäugigen Mädel treffen konnte.

Eine ganze Menge.

Noah spürte ein Kribbeln im Nacken, das trotz der inzwischen geschlossenen Vorhänge nicht nachließ. Er hatte sich im Laufe der Jahre mit vielen Soldaten, Militärpolizisten und altgedienten Cops unterhalten, und alle teilten seine Meinung: Dieses Kribbeln wies auf etwas Reales hin und sollte nicht ignoriert werden. Es hatte etwas zu bedeuten.

Nur wusste er nicht recht, was.

Von seinem Platz am kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers musterte er Winter. Sie kam ihm blasser vor als sonst, und unter den Augen – ein großartiger Blauton, tief und dunkel – hatte sie so dunkle Ringe, dass sie fast wie Prellungen aussahen. Sie wirkte gestresst.

Und das war ja auch nicht verwunderlich. Ihr erster Mordfall als FBI-Agentin hatte sich ausgerechnet in Harrisonburg ereignet, der kleinen Stadt in Virginia, in der ihre Familie vor Jahren ermordet worden war. Sie ermittelten wegen im Wald gefundener alter Gebeine, die durchaus die ihres vermissten Bruders sein mochten.

„Es gibt wirklich kein Problem, abgesehen vom Offensichtlichen?“

Winter nickte, und eine Strähne ihres langen schwarzen Haars löste sich aus dem straffen Knoten an ihrem Hinterkopf. Sie schob sie hinters Ohr, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn auffordernd an. Eindeutig wollte sie ihn nicht in ihrem Zimmer haben, aber das war ihm egal. Er würde nicht gehen.

„Weißt du, ich würde uns gern als Freunde betrachten.“

Sie verdrehte die Augen, und er bemerkte, dass ein Schatten über ihr Gesicht huschte. Hatte sie ein schlechtes Gewissen?

„Das sind wir, Dalton. Wir sind Freunde, seit ich dich vor den Augen des Leiters des FBI-Ausbildungszentrums fertiggemacht habe.“

Er schnaubte gutmütig. „Das hast du völlig falsch in Erinnerung, Darling. Ich hab dich fertiggemacht.“

„Als ich dir meinen Ellbogen gegen’s Brustbein gerammt habe, kam es mir anders vor.“

„Na schön, ich will ein Gentleman sein und dich glauben lassen, dass du damals gewonnen hast.“ Er musste ihr Gespräch wieder in die richtige Richtung lenken. „So oder so, Freunde reden miteinander.“

Noah holte ein abgenutztes Kartenspiel aus seiner Hosentasche und löste das darum geschlungene Gummiband. Mit geübter Hand teilte er den Kartenstapel in zwei Hälften und mischte sie so schnell ineinander, dass man nur ein verschwommenes Schwirren sah. Er hatte festgestellt, dass Leute eher bereit waren, mit einem zu reden, wenn sie glaubten, man sei abgelenkt. Doch ein Kartenspiel zu mischen, lenkte ihn nicht ab.

„Wir können morgen früh miteinander reden, Dalton“, sagte Winter aufgebracht. „In weniger als sieben Stunden sind wir zum Joggen verabredet, schon vergessen?“

„Was hältst du von Officer Benton?“ Noah teilte das Kartenspiel erneut, ohne ihre rhetorische Frage zu beachten.

„Ich halte ihn für einen Idioten. Bist du in mein Zimmer gekommen, um mich das zu fragen?“

„Poker?“, fragte er, mischte die Karten auffordernd und verzog dabei keine Miene. „Es muss kein Strip-Poker sein, es sei denn, du bestehst darauf.“

Sie schüttelte einfach nur den Kopf, rutschte aufs Bett und schob sich ein paar Kissen in den Rücken. Mit der Fernbedienung, die sie sich vom Nachttisch angelte, schaltete sie den briefmarkengroßen Fernseher auf der anderen Seite des kleinen Zimmers ein. Mit beruhigender Stimme verkündete ein Wettermoderator der Abendnachrichten leise die Voraussage für den nächsten Tag. Die Warmwetterperiode würde in diesen letzten Septembertagen weiter anhalten. Sonne und Wolken gemischt, um die vierundzwanzig Grad. Ein guter Tag, um einen alten Tatort zu besichtigen.

„Ich kenne Benton aus unserer Zeit in der Middle School“, sagte sie schließlich.

„So ist es in der Kleinstadt. Ich hatte mir schon gedacht, dass du einige Leute kennen würdest. War er damals auch schon ein Idiot?“

Sie stieß ein Lachen aus. „Waren das nicht alle Jungs?“

„Ich nicht. Hat mir meine Mama gesagt.“

Winter legte die Hände vors Gesicht und ließ sich in die Kissen zurücksinken. „Warum hat man mir diesen Fall zugeteilt? Hast du Max dazu überredet, mich mit dir zusammen darauf anzusetzen?“

Er reagierte mit keinem Wimperzucken auf den Themenwechsel. Noah wusste, dass die Frage ihr zu schaffen machte. Es war ungewöhnlich, dass ein Special Agent in Charge – ein Amtsleiter des FBI - einem Neuling und einem relativen Neuling gemeinsam so eine Sache gab, und sie müsste schon blöd sein, um das nicht zu bemerken. Und Winter war nicht blöd.

„Miguel Vasquez sollte den Fall übernehmen, aber er hatte einen Blinddarmdurchbruch und wird ein paar Wochen das Bett hüten. Ich bin sein Ersatzmann. Alle anderen sind mit dieser glaubwürdigen Anschlagsdrohung beschäftigt, die wir letzte Woche erhalten haben.“

Winter rang die Hände im Schoß, eine für sie seltene Geste der Nervosität. Dann löste sie sie wieder. „Warum hat Max den Fall dann nicht an dich übertragen? Du bist von uns beiden derjenige, der vier Jahre richtige Polizeierfahrung besitzt. Ich kann nur meinen Abschluss vorweisen. Warum ich?“

„Weil ich ihn darum gebeten habe.“ Er hob die Hände, kam ihren Einwänden zuvor. Ihre Augen blitzten warnend. „Neulich bei diesem Vergewaltiger, der Joggerinnen überfiel, hast du deine Sache sehr gut gemacht. Ich bin immer noch sauer, dass du damals vom Drehbuch abgewichen bist, aber du hast ihn erwischt. Du brauchst noch so einen Erfolg, um deinen Platz in der Abteilung für Gewaltverbrechen zu zementieren.“

„Herrgott, Dalton, du bist beim FBI genauso ein Frischling wie ich. Und du nimmst dir heraus, dem Amtsleiter einen Rat zu erteilen?“ Sie schaltete den Fernseher aus, sprang auf und marschierte in dem engen Zimmer auf und ab. Es sah so aus, als würden gleich Dampfwolken aus ihren Ohren quellen, aber wenigstens hatte sie wieder etwas Farbe bekommen. Sie wirkte nicht mehr ganz so gequält.

Achselzuckend schenkte Noah ihr sein unwiderstehlichstes Lächeln. Er kippelte mit dem Stuhl nach hinten, wohl wissend, dass diese herausfordernde Haltung sie noch mehr in Rage bringen würde. „Ich bin sympathisch. Alle mögen mich. Sogar du, und du magst sonst niemanden.“

Dich mag ich im Moment auch nicht besonders.“ Im Vorbeigehen trat sie mit dem Fuß gegen eines der beiden in der Luft schwebenden Beine seines Stuhls, und Noah schwankte kurz und musste sich schnell mit der Hand an der Wand abstützen. „Hatte deine Einmischung vielleicht irgendetwas damit zu tun, dass diese Gebeine von Justin stammen könnten? Im Erstbericht steht, dass es die Knochen eines Jungen sind. Wahrscheinlich zwischen sechs und zehn Jahre alt. Und sie liegen schon lange in der Erde. Jahre.“

Jetzt war es heraus. Die Wunde war aufgestochen, und Winters Schmerz lag frei zutage.

„Ja“, sagte Noah leise in die absolute Stille, die ihren Worten folgte. „Ich dachte mir, wenn es die Möglichkeit gibt, dass es dein kleiner Bruder ist, möchtest du mit dabei sein.“

„Da hattest du recht. Aber ich brauche deinen Texas-Charme nicht, um mir den Weg zu ebnen.“ Sie winkte mit einer Hand ab.

„Ich hatte nicht erwartet, dass du dich bei mir bedanken würdest“, sagte er so nüchtern wie ein Richter. „Aber ich könnte mir durchaus ein paar Möglichkeiten für eine Revanche vorstellen.“ Er warf ihr einen anzüglichen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch.

„Hier wird nicht fraternisiert, Dalton.“ Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel und machte ihre finstere Miene unglaubwürdig, genau wie er es sich erhofft hatte.

„Aber was ist mit der Nacht, in der du dich hast volllaufen lassen und ich dich heimgefahren habe …“

„Raus. Sofort.“ Um ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen, riss sie die Tür auf und knallte sie dabei gegen seinen ausgestreckten Fuß.

Belustigt von ihrem offensichtlichen Unbehagen bei der Erwähnung ihres einzigen und nicht sehr denkwürdigen Kusses stand er auf und wickelte das Gummiband wieder um das Kartenspiel. „Dann also bis morgen früh. Solltest du deine Meinung ändern, bin ich direkt nebenan.“

Sie schnaubte und verriegelte mit einem energischen Klacken die Tür hinter ihm.

Kaum war das Geräusch verklungen, wich das Lächeln von Noahs Gesicht, und er blickte auf den dunklen Parkplatz hinaus. Das Kribbeln im Nacken war fast verschwunden. Und verschwunden war auch der rostige blaue Chevrolet Pick-up, der zuvor dort drüben gestanden hatte. Neugierig lief er die Treppe hinunter, die zu den ebenerdigen Zimmern führte, trat vom Gehsteig und begab sich zur hinteren Reihe der Stellplätze, wo vorhin der Chevy geparkt hatte, vermutlich mit dem Fahrer darin. Auf dem Asphalt zeichnete sich ein Ölfleck ab.

Er blickte auf und erkannte durch den allzu dünnen beigefarbenen Vorhang Winters Silhouette. Er hatte sie nicht genug geneckt, um sie dauerhaft aufzumuntern, sie marschierte schon wieder auf und ab.

 Wenn der Mann im Pick-up noch da wäre, böte sich ihm der perfekte Blick in Winters Motelzimmer, und er könnte zusehen, wie sie an der Lösung des Problems arbeitete, das ihr zu schaffen machte.


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