Winters Geheimnis

Winter Black Serie: Band 6

Manche Geheimnisse tun weh, andere können töten …

Der Preacher ist tot, der Fall gelöst, doch nun wird Special Agent Winter Black anscheinend von ihrem verschollenen Bruder verhöhnt, den der Preacher gekidnappt hatte. Er hinterlässt eine Spur, die zu ihrem ehemaligen Elternhaus in Harrisonburg führt. Winter erfährt immer mehr und liegt nun im Kampf mit ihrem eigenen Inneren, denn der primitive Teil ihrer selbst, der während der Ermittlungen zum Mord an ihren Eltern auf Geheimniskrämerei und Rachsucht eingeschworen war, meldet sich zurück. Die Versuchung wird noch drängender, als die Vergangenheit ihres besten Freundes, ihres Kollegen Noah Dalton, nun ebenfalls hervorbricht.

Noahs Vater Eric hatte sich Geld von der russischen Mafia geliehen, rückt aber vor dem FBI nicht mit der ganzen Geschichte heraus, obwohl seine Tochter und sein Schwiegersohn entführt wurden und die Uhr tickt. Was verbirgt er? Und wer wird den Preis dafür bezahlen?

Ein korrupter Polizist, Ermittlungen gegen die russische Mafia und mehr Lügen als Wahrheit: Schaffen Winter und Noah es, vor Ablauf der von den Entführern gesetzten Frist die Puzzleteile zu finden und zusammenzusetzen? Oder war es von Anfang an zu spät?

Winters Geheimnis, der sechste Band von Mary Stones packender Winter-Black-Serie, nimmt Sie mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die Sie bis zur letzten Seite nicht wieder loslassen wird.

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Lesen Sie einen Auszug

Erstes Kapitel

Horrorfilme machten Natalie immer unruhig, besonders wenn sie sie spät am Abend schaute. Obwohl sie sich gut zuredete, dass der Schrecken ihr bestimmt nicht vom Kino nach Hause folgen würde, lief ihr ein Schauer den Rücken hinunter, als sie die Vordertür ihres Hauses aufstieß.

Sie drehte sich um und winkte ihrer Freundin zu. Dann erwachte der Automotor leise brummend zum Leben, und sie begriff, dass sie nun auf sich gestellt war.

Statt an die übernatürlichen Szenen zu denken, die den gerade gesehenen Film so erschreckend gemacht hatten, versuchte sie, im Geist die Film- und Schauspielkunst zu würdigen. Wenn sie einen unheimlichen Film in seine Bestandteile zerlegte und analysierte, gelang es ihr manchmal, ihre Beklommenheit zu lindern.

Tatsächlich hatten die Freundinnen, mit denen sie heute Abend ins Kino gegangen war, sie auf diese Idee gebracht. Beide waren Horrorfans, und etwa einmal im Monat kuschelten sie sich alle zusammen auf Natalies Couch, um Filme zu schauen und dabei Popcorn und andere Snacks zu vertilgen. Mit ihren Kommentaren über den Plot und die Darsteller hielten die Freundinnen Natalies Grauen in Schach, und zu Hause fühlte sie sich zudem sicherer. Doch diesmal waren sie zu dritt ins Kino gegangen.

Jetzt hatte Natalie wirklich eine Heidenangst.

Die roten Schlussleuchten des Wagens verblassten in der Ferne, und sie rieb sich über die Gänsehaut auf dem Arm.

„Aufhören“, schimpfte sie und schloss energisch die Haustür. Sie war doch eine verheiratete Frau, beinahe dreißig. Sie glaubte nicht mehr an Monster, die sich im Schrank versteckten.

Nein, verdammt noch mal.

Doch die Gedanken ließen sich nicht verscheuchen. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie den Film diesmal im Kino gesehen und die Freundinnen ihr Popcorn dort natürlich schweigend verdrückt hatten. Bestimmt lag es nur an den ausgebliebenen Kommentaren, dass sie so überwältigend unruhig war, als sie die Tür von innen verriegelte.

Sie schlüpfte aus ihren Slippern und nahm das Handy aus der Hosentasche, um nach einer neuen Nachricht ihres Mannes zu schauen. Jons Schicht endete eigentlich gegen zwanzig oder einundzwanzig Uhr, doch er wurde oft vom Chef der Nachtschicht zurückgehalten, um Papierkram zu erledigen, den Warenbestand aufzunehmen oder andere Aufgaben abzuarbeiten.

Die letzte Nachricht hatte sie eine halbe Stunde vor dem Film empfangen. Darin hatte ihr Mann ihr mitgeteilt, dass es sehr spät werden würde, doch eine weitere Nachricht, in der er eine genauere Zeit schätzte, war ausgeblieben.

Seufzend schaltete Natalie auf dem Weg zur Küche jedes einzelne Licht an. Dass ihr Mann als Retail Manager einen längeren und weniger planbaren Arbeitstag hatte als sie als Stewardess, erfüllte sie immer noch mit Erstaunen. Gut möglich, dass sie schlafend auf der Couch liegen würde, auf dem Couchtisch eine halb geleerte Schale mit Chips, wenn Jon nach zwölf Stunden Arbeit zurückkehrte.

Sie wollte schon den Küchenschrank öffnen, in dem sie die Snacks aufbewahrten, aber sie hielt inne. Dann lächelte sie.

Nein, heute Abend würde sie keine Chips essen. Jon hatte genug Hähnchen Parmigiana zubereitet, um eine ganze Armee satt zu bekommen, und die Reste würden wohl bis zur Apokalypse reichen.

Sie lächelte noch immer, als sie zum Nachbarschrank trat. Doch als sie seine Tür öffnete und einen Teller herausholte, erregte ein winziges Geräusch ihre Aufmerksamkeit.

Jemand atmete.

Ganz in der Nähe.

Unmittelbar hinter ihr.

Das Herz schlug ihr bis in die Kehle, und ein eiskalter Adrenalinstoß schoss durch ihren Körper, doch bevor sie sich bewegen oder sogar um Hilfe rufen konnte, strahlte von einem Stich am Halsansatz ein heftiger Schmerz aus.

Eine Biene, dachte sie. Doch das dachte sie nur ganz kurz.

Noch während sie die Hand hob, um nach dem vermuteten Insekt zu schlagen, breitete sich vor ihren Augen Dunkelheit aus. Die Muskeln in ihrem Körper erschlafften, und sie bekam mit, dass ihr der Teller aus der Hand glitt. Als das Porzellan auf dem Boden zerschellte, meinte sie zu fallen, obwohl sie nicht sicher war, ob sie tatsächlich körperlich stürzte. Der Eindruck hatte etwas Traumartiges, fast als schwebte sie in einer von allen Gefühlen befreiten Leere.

Dann spürte sie, wie ihr Kopf auf dem Boden aufschlug, und schließlich nur noch ein gnädiges Nichts.

Mit einem scharfen Atemzug erwachte Natalie wieder zum Bewusstsein, wie nach tiefem Schlaf, und im ersten Augenblick glaubte sie, sie sei gerade aus einem Albtraum aufgetaucht.

Sie war ja wohl tatsächlich eingeschlafen, oder?

Doch wenn sie einfach nur eingeschlafen war, wo befand sie sich dann?

Ein Hauch von Moder und Schimmel in der Luft vermischte sich mit einem weiteren Geruch, den sie nicht einordnen konnte. Eisen? Vielleicht Kupfer? Warum sollte die Luft in ihrem Haus so muffig riechen und warum nach Metall?

Im Bemühen, eine klarere Sicht zu bekommen, presste sie beim Nachdenken die Augenlider zusammen und hob die Hand, um sich die Schläfen zu reiben … oder versuchte es zumindest. Die Fessel um ihr Handgelenk klirrte, und etwas Scharfes und Kaltes grub sich in ihre Haut.

„Was …?“, stieß sie aus und zerrte kräftiger und dann noch kräftiger. Sie hörte erst auf, als das Metall ihrem Handgelenk so sehr zusetzte, dass sie den Schmerz nicht mehr ertrug.

Von Panik ergriffen, die alle rationalen Gedanken auslöschte, versuchte sie, die wenigen Einzelheiten zu erkennen, die ihre Umgebung ausmachten. Mit der freien Hand berührte sie das kühle Metall, das ihr immer noch ins Fleisch schnitt.

Ein Paar Handschellen, der eine Ring um ihr Gelenk geschlossen und der andere um ein Rohr oder einen Pfahl – sie konnte es nicht unterscheiden. Sie meinte, den Umriss ihres Arms zu erkennen, doch das mochte auch Einbildung sein.

Natalie ging nicht davon aus, dass ihr und Jons Haus eine Geheimkammer besaß, die der Immobilienmakler verschwiegen hatte. Das Souterrain des Eigenheims, das sie mit Jon bewohnte, war gefliest, und selbst der Zementboden der Waschküche war glatter als die raue Oberfläche, auf der sie jetzt lag.

Sie biss sich auf die Zunge, um bei dieser Erkenntnis einen bestürzten Schrei zu unterdrücken, und richtete sich zum Sitzen auf. Jede Bewegung war extrem mühselig, und ihre Gliedmaßen fühlten sich so an, als steckten sie in einem Fass mit Melasse.

Die Finger ihrer gefesselten Hand waren eingeschlafen, weil das Blut nicht richtig zirkulierte. Strähnen ihres schulterlangen Haars klebten verschwitzt an den Schläfen, und bei jedem Herzschlag hämmerte es in ihrem Kopf.

Das musste ein Traum sein. Jeden Moment würde sie vom Gebrabbel im Fernseher aufwachen, während sich mal wieder eine Kochsendung ihrem Ende näherte.

Mit zusammengebissenen Zähnen zog sie die Knie an die Brust und schloss die Augen.

Befand sie sich in der Hölle? War sie im Schlaf gestorben? Hatte sie wirklich Jonathan Falkner geheiratet und mit ihm zusammen ein Haus gekauft, oder war sie seit jeher hier gewesen? Konnte ihr ereignisloses, aber friedliches Leben in Baltimore nur eine Illusion sein?

Nein, das war lächerlich.

Sie musste ihre Gedanken in den Griff bekommen, wenn sie es schaffen wollte herauszufinden, wo sie sich tatsächlich befand.

Mit geschlossenen Augen entspannte sie die Schultern, holte tief Luft und zählte auf acht. Immer wieder die Hände zu Fäusten ballend, atmete sie aus und wiederholte das Prozedere. Bis acht zählen und einatmen, bis vier zählen und ausatmen. Und noch einmal.

Weiterhin ließen Adrenalin und Angst sie vor Kälte erschauern, und ihre Handflächen blieben feucht, doch der Wirbel abwegiger Szenarien in ihrem Kopf hatte sich ein wenig beruhigt, so dass vernünftige Gedanken möglich wurden.

Als sie jedoch versuchen wollte, in der Erinnerung zurückzugehen, stockte ihr plötzlich der Atem.

Es befand sich jemand mit ihr im Raum.

Eben noch hatte ihr das Herz in den Ohren gehämmert, und selbst jetzt musste sie aufmerksam lauschen, um die Laute zu erfassen.

„Hallo?“, brachte sie heraus. Das Wort war kaum mehr als ein Krächzen. „Ist … ist jemand da?“

Wie aufmerksam sie auch hinhörte, die Stille war ohrenbetäubend. Nur ein leises Keuchen war zu vernehmen, unterbrochen von einem gelegentlichen Gurgeln, das nicht wie ein normales Atemgeräusch klang.

Natalie war keine Expertin in Gesundheitsfragen, doch selbst sie konnte sagen, dass die Person auf der anderen Seite des Raums sich in einer schlechten Verfassung befand.

„Können Sie mich hören?“, fragte sie.

Ein leises Stöhnen war die einzige Antwort.

Wie war es dazu gekommen?

So sehr sie sich auch bemühte, sie erinnerte sich nur noch, dass der Teller ihrer Hand entglitten war, und dann an nichts mehr. Zweifellos hatte der Stich in den Hals etwas mit der pechschwarzen Dunkelheit zu tun, die sie jetzt umgab.

Aber warum? Und wichtiger noch, wo befand sie sich? Was zum Teufel war hier los?

Als wäre dieser Gedanke das Stichwort gewesen, ertönte in der Ferne ein gedämpftes Poltern. Der Lichtschaft, der einfiel, als eine Tür sich einen Spalt weit öffnete, wirkte so strahlend hell wie eine Deckenleuchte. Die Tür ging mit einem rostigen Kreischen auf, und es kam ihr so vor, als erlebte sie mit eigenen Augen die Explosion eines Sterns.

So plötzlich brannte ihr das grelle Licht in den Augen, dass ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. Mit der freien Hand schirmte sie den Blick gegen das Gleißen ab und hörte gleichzeitig, wie sich Schritte näherten. Durch die halb geschlossenen Lider erkannte sie, dass die Beleuchtung noch heller wurde, da der Besucher einen Schalter betätigte und sie mit Licht überschüttete.

Es schnitt rasiermesserscharf in ihre Pupillen.

Sie wollte den Neuankömmling unbedingt sehen und von ihm erfahren, wer er war und wieso sie sich in diesem modrigen Raum befanden, doch ihre empfindlichen Augen hatten sich noch nicht an das Licht gewöhnt. Bevor sie ihn erkennen konnte, sprach der Mann bereits.

„Sie sind wach.“

Diese einfache Feststellung wurde mit einem deutlichen Akzent geäußert. War er russisch? Sie kannte niemanden persönlich, der mit einem russischen Akzent sprach. Zumindest fiel ihr niemand ein.

Verzweifelt bemüht, klarer zu sehen, blinzelte sie mehrmals schnell und schaute dabei zu dem Mann hoch. Sein Gesicht hatte einen Bartschatten, der seine Wangen dunkler färbte. Sein kurzes Haar war professionell geschnitten, und mit seiner Lederjacke, dem Hemd und der dunklen Jeans sah er so aus, als könnte er direkt aus einem Club kommen.

„Wer sind Sie?“ Beschämt hörte Natalie, wie schwach ihre Stimme klang. Wie angegriffen. Sie blinzelte noch ein paar Mal, erst dann ertrug sie das Licht so weit, dass sie dem Blick des Mannes begegnen konnte. Bemüht, so viel Speichel in den Mund zu bekommen, dass sie deutlich sprechen konnte, schluckte sie.

„Nennen Sie mich Alek.“

Bevor ihr eine weitere Frage einfiel, nahm sie den anderen Gefangenen wahr.

Der schmuddelige Boden war rot verschmiert, und noch mehr Rot war gegen die Wand gespritzt. Seine Hand war wie die von Natalie an einen Metallpfahl gefesselt, der vom Boden bis zur Decke reichte. Das bleiche Lampenlicht fiel auf glänzend frische Blutflecken an seinen Armen und am Bauch. Als ihr Blick endlich auf dem Gesicht des Verwundeten landete, erkannte sie, dass er ihr Ehemann war, und ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Kehle.

„Nein …“ Schreck und Kummer umklammerten ihre Brust, und Tränen brannten ihr in den Augen. „Nein, Jon, nein.“

Sie versuchte, gegen die Enge anzuatmen, mit der die Angst ihr Herz bedrängte und ihr die Lunge zusammenschnürte, doch es war, als säße jemand auf ihrer Brust. Sie schaute auf die silbrig glänzenden Handschellen, mit denen ihr Handgelenk an einen rostzerfressenen Heizkörper gefesselt war. Hätte sie auch nur einen Augenblick über die Art ihrer Fesselung nachgedacht, wäre ihr klar gewesen, dass sie sich nicht befreien konnte. Der Heizkörper mochte heruntergekommen sein, doch er war stabil.

Während die Zeit fast stehen zu bleiben schien, wusste sie eines mit Sicherheit: Sie musste versuchen, zu ihrem Mann zu gelangen. Heftig keuchend riss sie ihren Arm mit einem Ruck vor. Beim Kampf gegen die Handschelle biss das Metall in ihr ohnehin schon wund gescheuertes Gelenk.

Der Schmerz war unerträglich, tausend Nadelspitzen kratzten über ihre ohnehin schon vibrierenden Nervenenden, und sie schluchzte, als der erste Tropfen Blut hervortrat. Mit zusammengebissenen Zähnen zog und zerrte sie nur noch stärker.

„Du schaffst das“, sprach sie sich flüsternd Mut zu.

Als der Mann beim Anblick ihres Kampfes laut loslachte, unterdrückte sie einen Schrei.

Nein, sie konnte den schweren Heizkörper nicht von der Stelle rücken, aber genau wie ihre Mutter hatte sie einen zierlichen Körperbau. Vielleicht konnte sie ihr Handgelenk aus der Schelle ziehen, weil es vom Blut schlüpfrig war. Als sie den Daumen unter die Hand schob und die Finger der Länge nach zusammenlegte, ließ ein weiteres glucksendes Lachen sie erstarren.

„Das sind extra kleine Handschellen.“ Der Akzent war jetzt noch deutlicher. „Die benutzt eure amerikanische Polizei für, wie sagt ihr? Für Jugendliche.“

Mit einem heftigen Kopfschütteln richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den gut gekleideten Russen. „Das ist nicht …“ Sie stockte. Sie war außer Atem, und so sehr sie es auch versuchte, es gelang ihr nicht, die nötige Luft in die Lunge zu ziehen. „Sie … das können Sie nicht machen.“ Obwohl sie den Mann gern angeschrien hätte, war ihre Stimme nur ein heiseres Krächzen.

Offensichtlich fand er ihren Kampf komisch.

„Oh doch.“ Er kratzte sich die Wange, warf einen Blick auf die reglos daliegende Gestalt und zuckte mit den Schultern. „Ihr Mann Jon, ja?“

„Warum tun Sie das?“ Die Frage war kaum mehr als ein Flüstern, und sie hatte Zweifel, dass der Mann sie überhaupt hörte.

Falls ja, reagierte er nicht.

„Er wurde angeschossen. Ein Bauchschuss.“ Angesichts seines Plaudertons hätte sie am liebsten laut geschrien. „Die wenigsten Menschen überleben eine solche Verletzung, wenn sie nicht sofort in ein Krankenhaus gebracht werden. Das ist Ihnen klar, ja?“

„Ich verstehe nicht.“ Sie wollte Aufklärung von ihm verlangen, brachte jedoch nichts als erschütterte Äußerungen des Entsetzens zustande.

„Einfacher ausgedrückt: Er liegt im Sterben. Und bis morgen ist es für jede Rettung zu spät.“

Sie schluchzte. „Warum?“

Erneut reagierte er nicht auf ihre Frage. „Natürlich war von Anfang an nicht beabsichtigt, dass er überleben sollte. Jonathan Falkner ist einfach nur eine Botschaft.“

„Was?“ Sie öffnete und schloss mehrmals den Mund, bis es ihr gelang, eine weitere zusammenhängende Bemerkung hervorzubringen. „Eine Botschaft? Was für eine Botschaft? Wer sind Sie? Was wollen Sie von uns?“ Jetzt überstürzten sich ihre Worte, doch sie konnte nicht aufhören, und mit zunehmender Panik wurde ihre Stimme schriller. „Bitte, sagen Sie es mir einfach! Was immer Sie wollen, ich gebe es Ihnen. Egal was. Nur bitte, bitte, bringen Sie ihn ins Krankenhaus!“

Der Russe schüttelte schon den Kopf, bevor sie geendet hatte, und das böse Lächeln spielte noch immer um seine Lippen. „Nein. Wir wollen nichts von Ihnen, Natalie. Mit Ihrem Vater ist es, wie sagt man, eine andere Geschichte. Er ist mir und meinen Leuten etwas schuldig.“

„Mein Vater?“, wiederholte sie ungläubig. „Was könnten Sie denn von ihm wollen? Er ist ein einfacher Linienflugpilot!“

„Eric Dalton.“ Nur die einen Moment lang geblähten Nasenflügel verrieten, wie aufgebracht er war. „Der ist doch Ihr Vater, ja?“

Sie starrte ihn mit offenem Mund an.

Eric Dalton war Pilot einer kommerziellen Airline, kein Krimineller. Er liebte seine Familie. Er war ein guter Mensch. Tatsächlich hatte er sich wundervoll um Natalies Mutter gekümmert, als die sich von einem schrecklichen Autounfall erholte. Was konnte dieser Alek von ihm wollen?

Meinte er vielleicht ihren Bruder? Ethan ging noch aufs College. Ihres Wissens hatten weder er noch irgendein anderes Familienmitglied je etwas mit … mit den ‚Leuten’ dieses Mannes zu tun gehabt, wer immer sie waren. Eine Gang? Die Mafia?

Sie schüttelte den Kopf. Gewiss nicht. Anscheinend hatte sie wirklich zu viele Filme geschaut.

Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, sich zu beruhigen. Nachdenken. Was wusste sie bisher?

Sie wusste, dass ihr Entführer ein Russe war oder aus einem Land mit sehr ähnlichem Akzent stammte. Ob sein Herkunftsland etwas mit der Sache hier zu tun hatte? Vor einigen Monaten hatte Natalie ein Test-Set gekauft, um der Herkunft ihrer Gene nachzugehen. Sie hatte Niederländer, Polen und Skandinavier unter ihren Vorfahren, aber keine Russen, und so konnte das wohl kaum eine Verbindung darstellen.

Ging es um Geld? Ihre Familie hatte immer finanziell gut dagestanden. Das Einkommen ihrer Eltern hatte zusammengenommen dafür gesorgt, dass sie sich mühelos in der oberen Mittelschicht bewegten, und selbst als ihr Vater letzthin ein paar Mal in den Zwangsurlaub geschickt worden war, hatten die beiden ihre Finanzen in Ordnung gehalten. Was könnte einer ihrer Eltern wohl jemandem wie diesem Mann schulden?

„Sie haben die falsche Person erwischt“, brachte sie schließlich heraus. „Da ist ein Fehler passiert. Bitte, Sie haben die falsche Person. Lassen Sie mich einfach laufen, und Ehrenwort, ich werde nichts preisgeben. Lassen Sie mich einfach nur Jon ins Krankenhaus bringen. Ich werde sagen, dass wir überfallen wurden und nicht gesehen haben, wer es war. Ich bin nicht die Person, die Sie in Ihre Gewalt bringen wollten, okay? Aber wenn Sie uns einfach gehen lassen, können wir so tun, als wäre all das nie geschehen.“

Mit demselben beunruhigenden Lachen schüttelte er den Kopf. „Nein, wir haben die richtige Person. Sie heißen Natalie Falkner, und Ihr Mann heißt Jonathan Falkner.“

„Es muss andere Menschen mit demselben Namen geben“, stieß sie heraus. Die Moralvorstellungen ihrer Eltern waren so konservativ, wie es nur ging, und ihr Bruder hatte seinen Abschluss an der Highschool als Spitzenschüler gemacht. Ethan war ein stiller, rücksichtsvoller junger Mann, und es war vollkommen ausgeschlossen, dass er in eine solche Sache verwickelt sein könnte.

Sie hatte außerdem noch einen Halbbruder. Sie hatte ihn nur einige Male getroffen, wusste aber, dass er Polizist war. Nein, nicht einfach Polizist. Noah Dalton war Special Agent beim FBI.

„Sie wollen bestimmt nichts von meinem Vater.“ Ihre Stimme war jetzt kräftiger. Voll Panik. Zu laut. Egal. „Sie müssen ihn verwechselt haben. Mit … mit Noah Dalton. Mein Vater ist Pilot. Bitte, Sie haben den falschen Mann im Visier. Es geht Ihnen bestimmt um Noah, meinen Halbbruder. Ich … ich kann Ihnen helfen, nur … helfen Sie bitte vorher ihm.“ Mit einem flehenden Blick neigte sie das Kinn in Richtung von Jons regloser Gestalt.

Wieder ein glucksendes Lachen. Der Laut klang nicht lustig, und das Grinsen des Mannes war der angsteinflößendste Gesichtsausdruck, den Natalie je gesehen hatte. „Ich begehe keine Fehler, und Sie helfen mir bereits.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen deutete der Russe auf Jon. „Er ist die Botschaft. Und Sie, Natalie, Sie sind … wie sagt man?“ Er hielt inne und schnippte mit den Fingern, doch sie merkte, dass es nur Show war. „Sie sind das Faustpfand.“

„Das Faustpfand?“ Das Wort klang in ihrem Mund beinahe fremdländisch. „Was bedeutet das? Das Faustpfand wofür? Wovon reden Sie? Sie sind hinter Noah her, nicht hinter mir oder meinem Vater. Oder Jon!“

Etwas von der grimmigen Belustigung verschwand aus seinen Augen. „Doch. Eric Dalton hat sieben Tage, um sein Wort zu halten, sonst sterben Sie genauso wie Ihr Mann. In dieser Zeit werden wir herausbekommen, ob Ihr Vater Sie wirklich liebt, ja?“

Die rostige Metalltür hinter ihm war geschlossen, sodass von der Außenwelt weder Licht noch Geräusche hereindrangen, doch sie hatte keine andere Alternative.

„Hilfe!“, schrie sie so laut sie konnte. „Bitte, helfen Sie mir! Mein Mann hat eine Schusswunde!“

Der Russe stöhnte genervt und griff in seine Jacke. Der glänzende Stahl einer Pistole schimmerte im unheimlichen Licht, doch er hielt die Waffe beim Nähertreten am Lauf.

Die Angst wurde zu etwas Lebendigem, das sie wie eine hungrige Bestie anfiel. „Nein, bitte nicht!“

Ihr Flehen traf auf taube Ohren.

Er machte sich nicht die Mühe einer Antwort und schlug ihr den Griff der Waffe gegen die Schläfe. An den Rändern ihres Sichtfeldes explodierte weißes Licht, und dann war die Welt still.

Zweites Kapitel

Obwohl Winter Black nur die Hälfte von Noahs Handygespräch hörte, hätte schon sein Gesichtsausdruck ihr verraten, dass der spätnächtliche Anruf mehr war als eine Störung durch einen Betrunkenen. Wie viel Uhr war es eigentlich?

Beim Hin- und Hermarschieren in seiner Wohnung war Noah am ganzen Körper so angespannt, wie sie es nur je gesehen hatte. Sein Vater war am Telefon, und Noah war absolut nicht glücklich darüber.

Als er den Anrufer praktisch anknurrte, blickte sie auf ihr Handy hinunter und richtete sich zum Sitzen auf.

Sie konnte kaum fassen, was auf dem Display zu lesen war. Die IT-Abteilung des FBI hatte ihr eine Nachricht geschickt:

E-Mail-Herkunft bestätigt: Harrisonburg, Virginia.

Ihr Herz hämmerte in der Brust, und sie las die Botschaft zum zweiten Mal. Konnte das stimmen?

Die Computer-Gurus des FBI gaben ihr Bescheid, dass die E-Mail ihres jüngeren Bruders, die sie vor einigen Wochen nach Abschluss der Schmidt-Ermittlungen empfangen hatte, aus ihrer Heimatstadt geschickt worden war. Aus der Stadt, in der ihre Eltern brutal ermordet und ihr kleiner Bruder mitten in der Nacht von zuhause entführt worden waren. Entführt von Douglas Kilroy, dem Preacher. Derselbe Mann, der ihre Eltern im Bett abgeschlachtet hatte, hatte in jener schrecklichen Nacht auch den sechsjährigen Justin Black verschleppt.

Diese ganz unerwartete E-Mail lautete schlicht: Hallo Schwester, hab gehört, du hast nach mir gesucht.

Jetzt, da sie wusste, aus welcher Stadt die Nachricht kam, hegte sie keinen Zweifel mehr. Justin hatte das geschickt. In Winters Augen gab es keine andere Erklärung.

„Was sagst du?“ Noahs Stimme riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Er war stehen geblieben, und das flackernde Licht des Fernsehers fing sich im silbernen Armband seiner Uhr, als er sich mit der freien Hand die Augen rieb.

Eine leise Stimme antwortete auf die Frage, aber so angestrengt Winter auch lauschte, sie verstand keine Worte. Sie zog die Knie an die Brust und ließ sich gegen die Rücklehne der Couch sinken. Sie konnte nur hoffen, dass der Anruf nicht wichtig war und Noahs Verärgerung einfach nur daher kam, dass er zu so später Stunde aus dem Schlaf gerissen worden war.

Widerstrebend sperrte sie das Display ihres Handys, hielt den leeren Blick aber auf den Couchtisch geheftet.

Sie brauchte nicht neugierig die Ohren zu spitzen, ermahnte sie sich. Falls Noahs Gespräch wichtig war, würde er ihr im Anschluss davon berichten. Sie zwang sich, wieder zum Fernseher zu schauen, und strich sich mit den Fingern durchs zerzauste Haar.

Aus irgendeinem Grund dachte sie bei der Berührung der langen Strähnen an ihre Freundin Dr. Autumn Trent. Deren kastanienroter Schopf war ganz anders als Winters schwarzes Haar.

Autumn hatte vor Kurzem die Doktorwürde in Rechtspsychologie erlangt und ihnen dabei geholfen, den letzten Fall zu lösen.

Welchen Rat würde Autumn ihr jetzt wohl geben? Würde sie Winters Einschätzung teilen, dass die E-Mail von Justin stammen musste? Oder würde sie glauben, dass Winter einfach das für richtig hielt, was sie sich am meisten wünschte?

Allerdings wusste Winter in Bezug auf ihren kleinen Bruder gar nicht wirklich, was sie sich wünschte.

Mehr als alles wollte sie ihn lebendig und glücklich antreffen, aber in den geheimen Winkeln ihres Herzens fragte sie sich besorgt, was für einen Menschen sie wohl tatsächlich vorfinden würde.

Der Junge war schließlich von einem Monster großgezogen worden. Manche Psychopathen kamen mit dieser Veranlagung zur Welt, andere wurden erst dazu gemacht.

Galt das auch für ihren Bruder?

Winter schloss die Augen und versuchte, sich nicht vorzustellen, wie die letzten dreizehn Jahres seines Lebens für ihn gewesen sein mussten. War Justin Zeuge weiterer grausamer Taten geworden, von denen das FBI nur nichts wusste? Weiterer Morde, bei denen der Preacher sich nicht durch eine blutige Schrift an der Wand zu erkennen gegeben hatte, damit der Junge von ihm lernen konnte? Oder sich sogar beteiligte? Hatte er auf Douglas Kilroys Schoß gesessen und hingerissen seinen Vorträgen gelauscht, wie schlimm es auf der Welt von Sündern wimmle und dass es Justins Pflicht sei, sie von der Erde zu tilgen?

Bei dem Gedanken schauderte sie zusammen. Dann rief Noah etwas aus, und sie öffnete die Augen. „Ich bin geschockt“, spie er heraus, und dabei troff seine Stimme von einem beißenden Sarkasmus, den sie bei ihm selten erlebte.

Als Winters Gedanken sich von ihrem Bruder ab und Noah zuwandten, stieß sie langsam den Atem aus. Was immer bei ihrer Suche nach Justin geschah oder nicht geschah, sie hatte Freunde. Sie war nicht mehr allein.

„Schön“, knurrte Noah ins Handy. „Schick mir die Flugdaten, dann hole ich dich vom Flughafen ab.“

So entschlossen sie auch gewesen war, sein Gespräch nicht zu belauschen, bei dieser Erklärung spitzte sie die Ohren.

Sein Vater kam? Aus welchem Grund auch immer, die Aussicht schien Noah alles andere als glücklich zu machen.

Gleich darauf warf Noah sein Handy auf die Couch, marschierte aber weiter im Zimmer auf und ab.

Winter räusperte sich. „Alles in Ordnung?“ Sie sprach betont freundlich. Auch wenn sie das Gespräch nur teilweise mitbekommen hatte, spürte sie es doch, wenn Noah aufgebracht war.

Schatten huschten über sein Gesicht, als er mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf schüttelte. „Bei meinem Vater bin ich mir da nie sicher.“

So viele Gedanken stürmten auf sie ein, dass es ihr schwerfiel, sich auf einen davon zu konzentrieren.

Sie hätte ihn gern gefragt, wie es kam, dass sie zum zweiten Mal an seiner Seite eingeschlafen war, und was das für die Zukunft ihrer Freundschaft bedeutete. Gleichzeitig hatte sie das Bedürfnis, ihm zu berichten, was die IT gerade über Justins E-Mail herausgefunden hatte.

Doch sie entdeckte ein Glimmen in seinen Augen, das sie nur als eine Mischung aus Verärgerung und Schwermut beschreiben konnte.

Sie schluckte die Beklommenheit wegen ihrer beider Beziehung und wegen Justins E-Mail herunter und richtete sich im Sitzen gerade auf. 

„Was will dein Vater?“ Sie redete zwar mit leiser Stimme, doch ihre Worte durchbrachen die Stille wie ein Gewehrschuss.

Mit einem weiteren tiefen Seufzer ließ Noah sich auf die Couch fallen. Langsam schüttelte er den Kopf. „Vater? Ich weiß eigentlich nicht, wie ich ihn nennen soll.“

Winter wandte sich ihm ganz zu. „Lass dir Zeit.“

Er rieb sich die Augen. „Ach“, murmelte er. „Ich möchte jetzt eigentlich nicht darüber reden. Ist schon gut. Ich kann dir morgen davon erzählen. Du solltest heimgehen und schlafen.“

Winter biss sich auf die Zunge, um keinen aufgebrachten Seufzer auszustoßen. „Ich bekomme wohl gerade meine eigene Medizin verabreicht, oder?“

Seine grünen Augen hefteten sich mit einem verständnislosen Blick in ihre. „Hä?“

„Es ist eindeutig nicht ‚schon gut’, und falls du glaubst, ich könnte nach so einer Störung einfach heimgehen und schlafen, hast du verdammt noch mal den Verstand verloren. Du erinnerst dich bestimmt, wie es war, wenn ich das mit dir gemacht habe, oder? Wenn ich die ganze Scheiße so lange in mich hineingefressen habe, bis mir fast der Kopf explodiert ist?“ Sie hielt nicht inne, um zu bedenken, dass sie selbst gerade ebenfalls etwas zurückhielt.

„Oh.“ Er senkte den Blick wieder auf den Couchtisch und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Nun wich das Unbehagen aus seinem Gesicht, und er öffnete den Mund zum Sprechen, doch sie schnitt ihm das Wort ab.

„Nein.“ Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Nein, ich kenne diesen Blick. Und ich weiß, er bedeutet, dass du mich vollquatschen willst, um dich zu verteidigen. Also ehrlich, Noah, wenn du mir jetzt auftischen willst, wie sehr sich das hier von den Gelegenheiten unterscheidet, bei denen ich dir Sachen vorenthalten habe, schubse ich dich von dieser verdammten Couch.“

Sie ignorierte die belustigte Miene, die er angesichts ihrer alles andere als gefährlichen Drohung machte. Sie würde ihm von der E-Mail erzählen, aber jetzt war weder die Zeit noch der Ort dazu. Auch wenn sie spürte, dass er einen Teil seiner Verstimmung verbarg, war ihr die Schwermut nicht entgangen, die seine Gereiztheit begleitete. Es würde eine bessere Gelegenheit geben, um das Thema Justin anzusprechen, sie musste einfach nur abwarten.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm einen Blick zu. „Du hast um ein Uhr morgens einen Anruf von deinem Vater erhalten, und jetzt siehst du so aus, als hättest du ein Gespenst getroffen. Nichts hier vermittelt mir den Eindruck ‚schon gut’. Ich verstehe dich natürlich. Du weißt, dass ich einen harten Tag hatte, und willst mich nicht damit belasten, weil du glaubst, dass es schon genug gibt, was mir zu schaffen macht. Aber ich kann das bewältigen, was in meinem Kopf los ist, und trotzdem eine gute Freundin für dich sein.“

Nun schien seine Abwehrhaltung in sich zusammenzufallen. Mit der Andeutung eines wehmütigen Lächelns auf den Lippen wandte er den leeren Blick vom Flur ab und ihr zu.

Achselzuckend breitete er die Hände aus. „Du hast recht. Mir ist jetzt schon klar, dass ich nicht wieder einschlafen kann. Ich weiß selbst nicht, wieso ich dachte, bei dir könnte es anders sein.“

Jede Sekunde des Schweigens, das seinen Worten folgte, war nahezu unerträglich. Doch so sehr sie ihre Sorge auch noch einmal betonen und ihm eine Antwort entlocken wollte, so schluckte sie doch den Schwall von Fragen herunter.

„Der Anruf.“

Beim Klang seiner leisen Stimme wandte sie die Augen von der Wanduhr und begegnete seinem Blick.

„Ich weiß immer noch nicht wirklich, wie ich den Mann nennen soll, obwohl er offiziell mein leiblicher Vater ist.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Seit Jahren habe ich kein Wort mehr von ihm gehört, aber es gefiel mir ganz gut so. Das war Eric Dalton.“

Den Namen hatte Winter tatsächlich noch nie aus Noahs Mund gehört.

Winter erinnerte sich an kein tiefer gehendes Gespräch über die Mitglieder der väterlichen Seite von Noahs Familie. Sie wusste, dass seine Familiengeschichte kompliziert war, hatte ihn aber nie um Einzelheiten bedrängt. Er hatte diese Verwandten fast nie erwähnt, und Winter hatte nicht nach ihnen gefragt.

„Als ich klein war, fünf oder sechs Jahre alt, hat er meine Mom, meine Schwester und mich sitzen lassen. Ich weiß nicht, warum er sich von uns getrennt hat, aber ich schätze, es hatte was mit einer gewissen hübschen Dame in Baltimore zu tun, der er ein Kind angehängt hat. Und wenn man bedenkt, dass Natalie nur wenige Jahre jünger ist als ich, muss es passiert sein, während er noch mit meiner Mom verheiratet war. Keine Ahnung, wieso zum Teufel er so lange gebraucht hat, um zu gehen, aber als er sich entschieden hatte, war er weg.“

Vom Mitgefühl wurde es Winter eng ums Herz. „Ach, das tut mir leid.“

Noah zuckte lässig mit den Schultern, doch sein Gesichtsausdruck zeigte, dass dieser Abschied noch immer starke Gefühle in ihm hervorrief. Winters Herz schmerzte dadurch nur umso stärker.

„Meine Schwester und ich besuchten ihn ein- oder zweimal im Jahr in den Ferien, doch wann immer wir bei ihm und seiner neuen Familie zu Gast waren, spürten wir, dass wir nicht dorthin gehörten. Sie lebten in einem spießigen Haus in der Vorstadt, im Rahmen einer Eigentümergemeinschaft. Ein Idyll wie aus dem Bilderbuch.“

Sie schob sich eine Haarsträhne hinter Ohr. „Ich kenne solche Viertel.“

Der finstere Blick war zurück. „Als ich in der achten Klasse war und meine Schwester in der zehnten, hörten wir einfach auf, ihn zu besuchen. Ich glaube, ehrlich gesagt, dass er es gar nicht bemerkt hat. Seit damals habe ich vielleicht fünf Mal mit ihm gesprochen. Einmal persönlich und bei den anderen Gelegenheiten am Telefon.“

„Oh.“ Winter zog ein Bein an und verflocht die Finger, um nicht die Hand nach ihm auszustrecken. „Was für ein Arschloch. Es tut mir leid. Ich meine, ich wusste, dass er ein Arsch war, aber nicht, wie sehr.“

„Keine Sorge, Darling. Meine Schwester und ich hatten Chris, und wir hatten Mom. Selbst verglichen mit der Zeit, als Eric noch bei uns lebte, war mein Stiefvater ein viel besserer Dad. Weißt du, demnächst musst du einmal mitkommen, wenn ich zu Besuch nach Hause fahre, und meine Familie kennenlernen. Außerdem willst du ja vielleicht ein Tattoo, und meine Schwester ist eine der besten Tätowiererinnen in Austin.“

Winter sah ihn mit offenem Mund an. „Deine Schwester ist Tätowierkünstlerin?“

Mit nun wieder fröhlicherer Miene lachte er über ihre beeindruckte Bemerkung. „Das sollte man nicht meinen, hm? Ja, sie tätowiert Leute, seit sie ihren Dienst in der Navy beendet hat. Sie und meine Mom sind beide Künstlerinnen, aber mich hat die Begabung wohl ausgelassen.“

Winter bekam den Mund noch immer nicht zu. „Allerdings. Ich habe schon Pictionary mit dir gespielt, weißt du noch?“

Er zwinkerte ihr mit einem schalkhaften Lächeln zu. „Meine manuelle Geschicklichkeit liegt auf einem anderen Gebiet.“

Etwas tief unten in Winters Bauch begann zu flattern, als sie sich den Gedanken verbot, was er wohl mit dieser manuellen Geschicklichkeit meinte. Sie versetzte ihm einen Boxhieb gegen die Schulter. „Jetzt mal ernsthaft. Und mir tut es ernsthaft leid, dass deine Stieffamilie so beschissen war.“

Wieder zuckte er mit den Schultern. „Es gibt Kinder, die ohne Dad und ohne eine Vaterfigur aufwachsen, aber so habe ich es nie empfunden. Ich hatte nie das Gefühl, aus einer ‚zerbrochenen’ Familie zu kommen, oder wie auch immer die Leute das gern nennen. Ehrlich, dieser nächtliche Anruf ist vor allem merkwürdig und ärgerlich, aber mehr nicht.“

Winter lehnte sich auf der Couch zurück und zupfte an den Spitzen ihrer langen Haare. „Jetzt wo du es so gut erläuterst, ja. Der Anruf kommt mir tatsächlich ein bisschen merkwürdig vor. Was wollte er? Vermutlich nicht sich dafür entschuldigen, dass er so ein Arschloch war.“

„Nein, gewiss nicht“, brummte Noah. „Er sagte, er bräuchte meine Hilfe. Er habe etwas vermasselt, und jetzt versuche jemand, ihn zu töten. Und er nimmt heute früh den ersten Flug nach Richmond.“

Winter kaute auf ihrem Daumennagel herum. „Er glaubt wirklich, dass jemand versucht, ihn zu ermorden, und sein erster Gedanke ist, nach Richmond zu fliegen und den Sohn um Hilfe zu bitten, mit dem er buchstäblich seit Jahren kein Wort mehr geredet hat? Glaubt er, er würde eine Spezialbehandlung bekommen, nur weil sein leiblicher Sohn beim FBI arbeitet?“

Noahs Stimme war ein Knurren aus tiefer Kehle. „Wahrscheinlich. Etwas anderes fällt mir nicht ein. Ich habe keine Ahnung, wieso er sonst nicht einfach zur Polizei in Baltimore geht. Oder vielleicht versucht er ja auch, mich anzupumpen, sobald er hier ist.“

„Aber sind Piloten nicht immer ziemlich gut betucht? Hat er dich schon einmal um Geld gebeten?“

Noah rieb sich das Gesicht mit den Händen. „Nein, aber im Moment traue ich ihm alles zu.“

„Vermutlich hat er nicht erwähnt, warum er in Schwierigkeiten steckt? Oder mit wem er Probleme hat?“

„Er sagte, am Telefon wolle er nicht auf die Einzelheiten eingehen.“

Winter musste sich bemühen, um nicht genervt die Augen zu verdrehen. „Warum? Hatte er Sorge, dass das FBI ihm nachspioniert?“

Noah schüttelte den Kopf und rückte das Armband seiner Vintage-Uhr zurecht. „Keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal wirklich, was er sich davon erhofft, hierher zu kommen.“

„Es ist lange her, seit du ihn zuletzt gesehen hast, oder?“

Noah nickte. „Ja.“

„Vielleicht hat er sich geändert. Ich meine nicht hundertprozentig, aber vielleicht ist er nicht mehr so ein Arschloch, wie du ihn in Erinnerung hast. Vielleicht ist er inzwischen ein bisschen weniger unmöglich.“ Das sagte Winter zwar, aber sie hielt es selbst für Quatsch. Als Noah erzählte, wie mies Eric ihn und seine Schwester behandelt hatte, war überraschenderweise etwas fast Mütterliches in ihr zum Vorschein gekommen, und sie wollte ihn trösten.

Noah warf ihr einen spöttischen Blick zu. Das soll wohl ein Scherz sein, sagten seine Augen.

Sie hob die Hände. „Ja, okay, schon gut. Das war blöd.“

Auch wenn sie gern ein optimistisches Bild des bevorstehenden Wiedersehens mit Eric Dalton gezeichnet hätte, lag ein unüberhörbarer Verdruss in Noahs Stimme, wann immer er den Mann erwähnte. Natürlich waren die spontanen Bemerkungen über die Hoffnung auf Veränderungen dazu bestimmt, ihrem Freund zu helfen, doch andererseits vertraute sie ihrem Urteilsvermögen: Wenn Noah nach all diesen Jahren noch immer so viel Feindseligkeit hegte, musste es einen verdammt guten Grund dafür geben.

Sie kannte Eric Dalton nicht und konnte daher nicht einschätzen, ob er log, aber falls der Mann eine Extrawurst beim FBI erwartete, würde er bitter enttäuscht werden.

„Er muss glauben, dass er sich in Gefahr befindet, oder?“, fragte sie.

Noah nickte. „So klang er auch. Zumindest soweit ich es aufgrund eines Telefongesprächs beurteilen kann. Seine Worte haben sich fast überschlagen.“

„Sollte es wirklich lebensgefährlich sein, bringen wir ihn besser gleich ins Büro. Wir gehen ganz offiziell an die Sache heran, damit wir ein richtiges Ermittlungsverfahren eröffnen können.“ Winter war Eric Dalton nie begegnet, aber sie wusste jetzt schon, dass sie ihn nicht mochte.

Noah war einer der nettesten Menschen, die sie kannte. Er war freundlich, ehrlich, intelligent und witzig. Er hatte einen gewissen bodenständigen Charme, der sich in seinem einnehmenden Lächeln und seinen leutseligen Bemerkungen äußerte, doch in seinen grünen Augen lag ein unverkennbarer Scharfsinn, den die meisten Leute unterschätzten.

Obwohl Noah Erics plötzliches Wiederauftauchen einfach als lästige Störung abtat, begriff Winter, dass seine Ungerührtheit zum größten Teil vorgetäuscht war. Gewiss empfand er keine Zuneigung zu seinem Vater, aber der Verrat des Mannes tat nach all diesen Jahren immer noch weh.

Noah hat genug eigene Sorgen.

Außerdem würde die E-Mail wahrscheinlich ohnehin zu nichts führen. Zu Beginn der Ermittlungen zu Justins Aufenthaltsort war Winter sehr optimistisch gewesen, dass sie einen Hinweis finden würden, der sie weiterbrachte. Stattdessen waren sie in eine Sackgasse nach der anderen geraten.

Sie wollte sich keinen neuen Hoffnungen hingeben, die dann doch nur zerstört würden, und sie wollte Noah nicht ohne triftigen Grund noch zusätzlich belasten. Vorläufig würde sie das mit der E-Mail für sich behalten, bis sich abzeichnete, dass sie damit weiterkommen würden.

Doch obwohl sie sich das ganz vernünftig sagte, wurde sie ihr schlechtes Gewissen nicht los.

 Wenn sie die Nachricht über Justin aus Rücksicht auf Noahs psychische Verfassung zurückhielt, warum fühlte es sich dann so an, als belöge sie ihn?


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