Ein Vorgeschmack auf... Winters Netz
Erstes Kapitel
Als Nathaniel Arkwell aus der Garage trat und die Tür hinter sich schloss, fiel ihm auf, dass es im Haus ruhiger war als gewöhnlich. Er sperrte wieder ab und schaute sich im Vorraum um, musterte die Bank, die Schuhe darunter und die aufgehängten Jacken an der gegenüberliegenden Wand.
Alles wirkte geradezu manierlich. Selbst die Tafel über der Sitzbank war sauber gewischt. Maddie, Nathaniels Tochter, hatte sie im Sommer aufgehängt, damit sie keine wichtigen Schulfeste verpasste.
Die Ordnungsliebe hatte sie von ihm geerbt. In all den siebzehn Jahren konnte er die Gelegenheiten, an denen er sie ermahnen musste, ihr Zimmer aufzuräumen, an einer Hand abzählen. Meistens sah es bei ihr ebenso aus wie in seinem Arbeitszimmer.
Er war dankbar für die Gemeinsamkeiten, die er und Maddie entdeckt hatten, als sie älter wurde. Sie konnten über alles reden, angefangen von ihrem Geologiekurs bis zu ihrem sozialen Umfeld.
Allerdings war die Ordnungsliebe praktisch die einzige Gemeinsamkeit, die er mit seinem Sohn Cameron teilte, der bereits im College-Alter war. Seit Katrina Arkwell - Nathaniels geliebte Ehefrau und Mutter seiner Kinder – vor elf Jahren gestorben war, hatte sich die Kluft zwischen ihnen vertieft. Er hatte sich intensiv bemüht, den Abgrund zu überwinden, doch es war ihm nicht gelungen.
Bei dem Gedanken seufzte er. Manchmal glaubte er, Katrina sei das Einzige gewesen, was seinen Sohn mit der realen Welt verbunden habe.
Mit dem Fuß schob Nathaniel seine glänzend schwarzen Schuhe unter die Bank und ging durch den Flur zur geräumigen Küche.
Etwas Licht fiel durch die Panoramafenster an der anderen Seite des Raums. Ein Farbklecks war das letzte Überbleibsel des strahlenden Sonnentags. Zum dritten Mal in Folge war er erst nach Sonnenuntergang von der Arbeit heimgekommen.
Die Küche sah ebenso makellos aus wie der Vorraum. Die Reinigungskräfte waren bereits gegangen, und offenbar hatte sich nach ihnen niemand mehr im Haus bewegt. Hätten Cameron oder Maddie die Küche benutzt, hätten sie Spuren hinterlassen. So ordentlich sie auch waren, hätte es zumindest noch leicht nach Pizza oder Tacos geduftet. Maddie war seit Neuestem wild auf Zwiebeln, deshalb nahm Nathaniel an, dass es nach ihrer letzten Mahlzeit gerochen hätte.
Nein, er wusste bereits, dass seine Kinder nicht zu Hause waren. Er konnte sich einen weiteren Seufzer nicht verkneifen, diesmal Ausdruck von Erleichterung. Er liebte seine Kinder, doch Ruhe war ein Privileg, in dessen Genuss er nur selten kam.
Cameron studierte an der Virginia Commonwealth University, und Maddie war Highschool-Schülerin im vierten Jahr, doch ihr beider Tagesablauf harmonierte nicht. Maddie hatte Nathaniel mittels SMS gefragt, ob sie bei einem Freund übernachten dürfe, und er hatte seinen Segen dazu gegeben.
Und was trieb Cameron? Wer wusste das schon. Nathaniel konnte nur hoffen, dass er bei einer Bierparty oder in einer Bar war. An einem Ort, der für einen normalen College-Studenten angemessen war.
Nathaniel ging durch die Küche und den Frühstücksbereich, in den Socken machte er kaum ein Geräusch. Er ließ die Kuriertasche von der Schulter gleiten, passierte das Wohnzimmer und wandte sich zur Treppe. Abgesehen von den Einbauleuchten und einer Stehlampe waren alle Lampen ausgeschaltet.
Auf der Treppe zum offenen Loft im ersten Stock fühlte er sich plötzlich älter als fünfundvierzig. Von der hohen Warte aus ließ er den Blick über den Wohnbereich und das Wenige schweifen, was von Küche und Frühstücksraum zu sehen war. Noch immer keine Bewegung.
Obwohl er keinen Anlass hatte zu glauben, im ersten Stock erwarte ihn eine Bedrohung, fand er die Stille so beunruhigend, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten.
Er biss die Zähne zusammen und versuchte die aufkeimende Paranoia abzuschütteln. Der Außenbereich wurde rund um die Uhr von Überwachungskameras und Bewegungsmeldern geschützt. Die Alarmanlage war mit einer der besten Sicherheitsfirmen der Stadt verbunden.
Da weder seine Kinder noch Hausangestellte da waren, konnte er auch die Gelegenheit dazu nutzen, ein bisschen zu arbeiten.
Weil es so ordentlich war im Haus und weil er am Nachmittag im Büro gewesen war, bemerkte Nathaniel den Umschlag sofort, als er die Stehlampe in der Ecke einschaltete.
Mitten auf dem Schreibtisch aus poliertem Mahagoni lag ein schlichter weißer Brief. Sein erster Gedanke war, Maddie habe ihn mit einem der Anhänger überraschen wollen, die sie neuerdings bastelte. Dann aber bemerkte er, dass die Handschrift auf dem Umschlag nicht Maddies war.
Es war die seines Sohnes.
Nathaniel glaubte nicht, dass Cameron ein schlechter Junge war, aber er war … seltsam. Gegenüber seinen Mitstudenten und auch seiner Schwester gab er sich anders als gegenüber seinem Vater. Für sie war er ein normaler, zweiundzwanzigjähriger Student.
Nathaniel sah in ihm etwas ganz anderes.
Nathaniel war allergisch gegen Katzenhaare, und nach dem Versuch mit einem Meerschweinchen für Maddie war Nathaniel dankbar gewesen für die Allergie. Denn ein paar Wochen, nachdem Maddie Porky, das Meerschweinchen, mit nach Haus gebracht hatte, verschwand es auf einmal.
Zunächst glaubte Nathaniel, seine achtjährige Tochter habe die Käfigtür offengelassen, und Porky sei in die Freiheit entwischt. Für ihn war der Verlust eine normale Erfahrung in dem Prozess, erwachsen zu werden und zu lernen, mit Verantwortung umzugehen. Er hatte nicht mit Maddie geschimpft, als sie über das verschwundene Meerschweinchen gesprochen hatten, doch sie beharrte trotzdem darauf, sie habe ihr Haustier gewissenhaft versorgt.
Die Tage wurden zu Wochen, die Wochen zu Monaten, und Porky blieb verschwunden.
Im Frühjahr grub Martha, ihre langjährige Haushälterin, das Gemüsebeet um. Die Überreste waren zu dem Zeitpunkt bereits stark verwest, doch Martha nahm Nathaniel beiseite und zeigte ihm den Kadaver. Nathaniel kannte sich nicht besonders gut aus mit Anatomie, doch selbst er sah, dass Porky zerfleischt worden war, bevor man ihn vergraben hatte.
Vielleicht hatte es ein Kojote getan. Oder eine Katze. Er versicherte der Frau, Porky sei von einem wilden Tier zerrissen worden. So etwas kam vor.
Porky war das erste Opfer, aber nicht das letzte.
Als Martha Cameron dabei ertappte, wie er einen kleinen Hund sezierte, kündigte sie, und Nathaniel zahlte ihr eine hohe Prämie, damit sie über den Vorfall schwieg. Seit Wochen war mit Aushängen nach dem Hund gesucht worden, dem Finder wurde eine Belohnung versprochen. Jedes Mal, wenn Nathaniel ein solches Plakat sah, wurde ihm regelrecht übel.
Selbst damals noch redete er sich ein, Camerons Interesse am Inneren eines Lebewesens sei normal. Vielleicht würde Cameron ja Arzt oder Chirurg werden, vielleicht war das der Grund, weshalb er an kleinen Tieren herumschnibbelte.
Doch im Grunde hatte er es schon damals gewusst.
Nach Porky erlaubte Nathaniel keine weiteren Haustiere mehr. Vor einem Jahr war er schwach geworden und hatte Maddie ein Aquarium geschenkt, wobei er annahm, mit Fischen könne man nichts falsch machen.
Er lehnte die Tasche an den Schreibtisch und ließ sich auf dem lederbezogenen Stuhl nieder. Als er den Umschlag in die Hand nahm, fiel ein kleiner Gegenstand heraus.
Er hatte mit einem Blatt Papier gerechnet, doch es war nur ein billiger USB-Stick darin gewesen.
Nathaniel wog ihn auf der Handfläche und hatte dabei das Gefühl, sein Mund sei mit Watte ausgestopft. Er schluckte trocken, klappte widerwillig den Laptop auf und stöpselte den USB-Stick ein.
Er enthielt eine einzige Datei. Ein Video.
Nathaniel fuhr sich mit der Hand durchs Haar und öffnete das Video.
Als er sah, wie lang es war, machte er große Augen. Über vier Stunden?
Er biss die Zähne zusammen und beugte sich zum Bildschirm vor. Die Kamera war weit oben in der Ecke eines trüb erhellten Raums platziert, entweder an der Wand oder in einem Regal. Abgesehen von einem Doppelbett an der gegenüberliegenden Wand, einem Holzstuhl und einem Tisch war der Raum leer. Möglicherweise zeichneten sich unter der Bettdecke die Umrisse einer Person ab, doch wegen der Dunkelheit konnte er das nicht genau erkennen.
Sein Zeigefinger schwebte über dem Touchpad, und seine Kiefermuskeln arbeiteten, bis er sich zwang, das Video zu starten.
Im ersten Moment glaubte er, es sei gar kein Video. Das redete er sich so fest ein, dass er beinahe aufgesprungen wäre, als die Schatten auf dem Bett sich verlagerten.
Eine junge Frau setzte sich auf und warf die dunkle Steppdecke ab. Sie wandte den Kopf hin und her, doch es war nichts zu hören. Obwohl sie etwas zu sagen schien, nahm Nathaniel nur die Stille seines Hauses wahr.
Er erkannte weder den Raum wieder noch die Frau oder die Einrichtung.
Als die junge Frau aus dem Bett stieg, sog Nathaniel scharf den Atem ein.
Um den einen Fuß lag eine Fessel. Wer immer sie war, jemand hatte sie an die Wand gekettet.
Mit offenem Mund beobachtete er, wie sie in unheimlicher Lautlosigkeit die Wände und den Boden des Raums inspizierte. Entweder sie bemerkte die Kamera nicht, oder sie war getarnt.
Die Frau wirkte panisch, und Nathaniel hoffte, dass es sich um ein Filmprojekt handelte – um die künstlerische Darstellung von Menschenhandel oder um den Anfang eines selbstgemachten Horrorfilms. Sofern alle Beteiligten einverstanden waren, war es ihm egal.
Doch je länger er der angsterfüllten Frau zusah, desto mehr glaubte er, dass sie sich nicht aus freien Stücken in dem Raum aufhielt.
Es musste ein Filmprojekt sein. Es musste.
Cameron sprach selten mit Nathaniel über sein Studium. Bestimmt hatte er einen Filmkurs belegt, um irgendwelche Anforderungen zur Allgemeinbildung zu erfüllen.
Das musste die Erklärung sein. Nathaniel war sich ganz sicher.
So überzeugend seine Erklärung auch war, schnürte sich ihm dennoch die Kehle zu, als die blonde Frau sich zurück aufs Bett setzte und am Fußende die Knie ans Kinn zog.
So gern er in Erfahrung gebracht hätte, was auf dem Video sonst noch alles zu sehen war, konnte er doch nicht vier Stunden lang der verängstigten Frau zuschauen. Nachdem er seinen Atem beruhigt hatte, spulte er vor.
Erst nach einer halben Stunde stand die Frau auf, zehn Minuten später setzte sie sich wieder auf die Matratze. Er spulte schneller vor und vermochte sich beinahe einzureden, sie wirke nicht mehr so verängstigt oder panisch wie zuvor.
Die Zwei-Stunden-Marke wurde erreicht, dann die Vier-Stunden-Marke, und noch immer gab es keine Veränderung. Als er bereits sicher war, dass auf dem ganzen Video lediglich eine junge Frau in einem trüben Raum zu sehen war, wurde der Bildschirm dunkel.
Nathaniel sog scharf den Atem ein und wechselte mit einem Tippen aufs Touchpad zur Normalgeschwindigkeit.
Als das Video weiterging, war der Raum in helles Licht gebadet. Nathaniel vermutete, dass jemand Filmscheinwerfer eingeschaltet hatte.
Die Frau war nicht mehr allein.
Der Mann war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, doch es war genug nackte Haut zu sehen, um erkennen zu können, dass es sich um einen Weißen handelte. Selbst die Augen hatte er hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen.
Als er sich der auf dem Betonboden kauernden Gefangenen näherte, übertönte Nathaniels Herzschlag alle anderen Geräusche. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund, doch er konnte sich nicht dazu bringen zu schlucken. Seine ganze Aufmerksamkeit und seine ganze Energie waren auf das Geschehen fixiert.
Die Tränen, die der Frau über die geröteten Wangen liefen, als sie sich bemühte, dem Mann zu entkommen, funkelten im Licht der Scheinwerfer.
Ihr Versuch war zum Scheitern verurteilt. Sie wich in eine Ecke zurück. Es gab kein Entkommen.
Sein Arm schnellte vor wie eine zubeißende Schlange, die behandschuhten Finger schlossen sich um ihren Hals.
Sie schrie und wollte ihn wegstoßen, doch sie wehrte sich vergeblich.
Nathaniel wusste nicht, wie es weitergehen würde. Er kannte den Mann nicht, und obwohl sie der Kamera so nah war, konnte er auch die Frau nirgendwo einordnen.
Das muss ein Filmprojekt sein, wiederholte er im Stillen.
Ein Filmprojekt.
Es funkelte metallisch, als der Mann ein Messer hinter dem Rücken hervorzog. Mit einer blitzartigen Bewegung drückte er ihr die Klinge an die Kehle.
Das Video hatte keinen Ton, doch Nathaniel konnte erkennen, dass sie ‚bitte’ murmelte, als er sie weiter in die Ecke schob. Der Mann legte ihr ungerührt die Hand auf den Mund, drückte ihren Kopf nach hinten und zog ihr das Messer über den Hals.
„Grundgütiger!“, rief Nathaniel und wich so heftig vom Laptop zurück, dass der Stuhl gegen die Wand stieß.
Blut. So viel Blut.
Als ihr Kopf schlaff herabhing und sie mit leblosen blauen Augen in die Kamera sah, konnte Nathaniel nicht mehr hinsehen.
Das war ein Filmprojekt. Das war ein selbstgedrehter Horrorstreifen und die blonde Frau eine verdammt gute Schauspielerin. Das Kunstblut hatten sie literweise gekauft. Es gab Hilfsmittel, um Wunden jeder beliebigen Größe vorzutäuschen.
Ja.
So musste es sein. Das war die einzig mögliche Erklärung.
Ein Filmprojekt.
Nichts anderes.
Zweites Kapitel
Bevor er mit einem Tastendruck den Videoanruf startete, fuhr Ryan O’Connelly sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. Fast ein Jahr lang hatte er ein Leben im Verborgenen geführt. Die Dunkelheit war seine neue Normalität gewesen, die Anonymität sein Modus Operandi. Wenn er den Kopf einzog und sich im Schatten hielt, hatte er eine Chance, der Entdeckung durch das FBI oder andere Strafvollstreckungsbehörden, die ihn suchten, zu entgehen.
Er führte ein Leben auf der Flucht und war es gewohnt, sich um eine einzige Person zu sorgen: sich selbst.
Jetzt aber war er nicht mehr allein.
Ein paar Tage nach der Tortur mit Heidi Presley – einer eindeutigen Psychopathin, die eine Spur von Toten hinter sich ließ, als sie im ganzen Land eine Reihe berühmter Raubüberfälle nachstellte – hatte Ryan eine verzweifelte Nachricht seiner kleinen Schwester erhalten. Das war vor neun Monaten gewesen. Damals war es Ryan gelungen, seine Schwester und deren Kinder in Sicherheit zu bringen. Aber wozu? Damit sie bei jedem Anklopfen fürchteten, die Polizei käme sie holen?
Sie hatten lange genug in Angst gelebt.
Das musste ein Ende haben.
Er und seine Schwester waren mitten in Chicago in tiefster Armut aufgewachsen und hatten die Launen ihres gewalttätigen Onkels wehrlos ertragen. Er war ein Trinker und ein Fiesling, und das waren bereits seine beiden einnehmendsten Eigenschaften.
In der Zeit ihres gemeinsamen Aufwachsens waren er und Lil untrennbar gewesen. Er hatte auf sie aufgepasst und sie auf ihn. Ryan hatte sich mehr als einmal in die Schusslinie geworfen, um seine Schwester zu beschützen, doch im zehnten Schuljahr war er weggelaufen, nachdem sein Onkel ihn beinahe umgebracht hätte. Seinen Freunden und seiner Schwester hatte er nichts von seinen Plänen erzählt - keiner Menschenseele. Mit fünfzehn Jahren humpelte er einfach durch die Tür nach draußen und schwor, er werde wiederkommen, wenn er dazu in der Lage sei.
Als er Monate später zurückkehrte, lebten neue Mieter in der schäbigen kleinen Wohnung. Lillian war verschwunden.
Er brauchte zwei Jahre, um sie aufzuspüren, und als er endlich den Mut aufbrachte, mit ihr zu sprechen, schlug sie ihn ins Gesicht.
Er nahm den Schlag hin wie ein Mann, denn er hatte ihn verdient. Dann flehte er sie an, mit ihm zu gehen, aber sie weigerte sich. Sie war schon fast siebzehn und sagte, sie sei in einen neun Jahre älteren Mann verliebt. Der werde sie beschützen, meinte sie.
Anders als mein Bruder.
Das sprach Lillian nicht aus, doch er wusste, dass sie es dachte.
Damals hatte Ryan die Zurückweisung auf die leichte Schulter genommen. Er versuchte sich einzureden, er habe getan, was er konnte.
Als er ein zweites und ein drittes Mal fragte und sie immer noch Nein sagte, ging er, bevor sein Onkel ihn bemerkte.
Zum zweiten Mal hatte er Lillian in hoffnungsloser Lage im Stich gelassen.
Er hatte Angst gehabt – Angst vor seinem Onkel, Angst vor den Veränderungen, die mit Lillian in seiner Abwesenheit vorgegangen waren, Angst davor, wieder in sein altes Leben gezwungen zu werden. Inzwischen war er erwachsen genug, um sich das einzugestehen.
Jetzt, fünfzehn Jahre später, wusste er, dass sie alles getan hatte, was nötig war, um zu überleben. Doch damals hatte sich ihre Zurückweisung so schmerzhaft angefühlt wie eine Ohrfeige. Er war nicht bei ihrer Hochzeit gewesen, die ein paar Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag stattgefunden hatte. Er war auch nicht bei der Beisetzung ihres Mannes gewesen, der ein paar Jahre später gestorben war. Erst als sie zum zweiten Mal heiratete und schwanger wurde, hatten sie wieder miteinander gesprochen. Sie war zu dem Zeitpunkt schon mehrere Monate schwanger, und trotz der Distanz, die zwischen ihnen herrschte, machte sie ihn voller Stolz zum Paten ihrer kleinen Tochter.
Eine Woche, nachdem Heidi Presleys Terrorregime ein Ende genommen hatte, rief sie voller Panik an. Er beschloss, sie nicht wieder im Stich zu lassen wie damals. So wie er es sich vor Jahren vorgenommen hatte, zögerte er nicht. Er urteilte nicht, sondern half ihr einfach.
Der gefährlichste Moment in einer missbräuchlichen Beziehung – wenn für das Opfer das höchste Risiko bestand, getötet zu werden – war der Zeitpunkt der Abnabelung. Anders als vor fünfzehn Jahren wollte Ryan die Sache diesmal bis zum Ende durchstehen.
Lillian befand sich jetzt in Sicherheit, und er würde dafür sorgen, dass es auch so blieb.
Er löste sich aus seinen Träumereien, krümmte die Finger und drückte die Enter-Taste. Er hatte sie bereits mittels SMS auf den Videoanruf vorbereitet, und beim zweiten Mal Klingeln ging sie bereits ran.
Mit leichtem Lächeln streifte sie sich dunkle Haarsträhnen aus den Augen und winkte ihm zu. „Hey, Bro. Wie geht’s?“
Zum ersten Mal seit gefühlt tausend Jahren lachte er. „Bro? Sind wir jetzt Verbindungskumpel?“
Ihre blassblauen Augen leuchteten, als sie lachte, und einen Moment lang verblassten ihre Augenringe. „Dann müssten wir uns die Hände auf ganz spezielle Art schütteln.“
Ihre Heiterkeit spiegelte sich in seinem Gesicht wider. „Aber sicher. Sind Evan und Erin bei dir?“
Sie blickte zur Seite und schüttelte den Kopf. „Nein. Die gucken Pokémon. Du hattest übrigens recht: Sie fahren drauf ab. Ich hab ihnen heute nach der Schule Pokémon-Figuren gekauft. Erin hat eine kleine Katze bekommen, Evan eine Schildkröte.“ Sie schwang die Beine vom Bett und verschwand aus dem Bild. Sekunden später hörte er, wie das Türschloss leise klickte.
Ryan gab sich Mühe, sein Lächeln beizubehalten, als sie zurückkam und sich wieder aufs Bett setzte. Lil, Evan und Erin hatten sich in Omaha, Nebraska, niedergelassen, und Ryan befand sich weit ab vom Schuss, in Virginia. Bislang hatte sich sein Leben an der Ostküste einsam gestaltet. Dass er sich ständig Sorgen machte, James Lowell, Lils übergriffiger Ex-Mann, würde die drei aufspüren, machte es nicht besser. Wäre er bei Lil gewesen, hätte er etwas dagegen unternehmen können.
Obwohl Ryans so genannte Arbeit ihn rund um den Globus führte, achtete er seit Erins Geburt darauf, mit seiner Schwester in Kontakt zu bleiben. Doch sein Gefühl, eine heftige Strömung entferne Lillian immer weiter von ihm, wurde von Monat zu Monat stärker.
Bei den letzten Besuchen bei ihr in Chicago war Ryan nicht entgangen, dass Lillian blaue Flecke an ihren Armen mit Concealer abgedeckt hatte.
Ein Missverständnis, erklärte sie ihm. Ein einmaliger Ausrutscher. James habe seinen Job als Schweißer verloren, und sie alle hätten Stress. Lil hatte am Community College fürs kommende Semester Kurse belegt, doch jetzt musste sie ihre Pläne ändern und sich einen Fulltime-Job suchen, um so lange, bis James eine neue Stelle fand, die Familie zu ernähren.
Ihre Erklärung hatte so hoffnungsvoll und aufrichtig geklungen, dass Ryan ihr geglaubt hatte. Doch ein paar Monate später, nach einer Unterhaltung am Abend, wurde ihm klar, dass zahllose Missbrauchsopfer in aller Welt die gleichen Ausreden vorbrachten.
Lils Stimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. „Ich kann gar nicht glauben, dass die Kids immer noch auf diese Sachen abfahren. Ich meine, Pokémon gab es schon, als wir noch zur Schule gingen, oder?“
Er machte ein nachdenkliches Gesicht und kratzte sich am Kinn. „Schätze, ja. Ich weiß, dass die Kinder in der Mittagspause Karten getauscht haben. Aber ich hab das wohl knapp verpasst.“
Sie breitete versonnen die Arme aus, als sie sich wieder setzte. „Es ist nie zu spät.“
„Ich werd meine eigene Pokémon-Sammlung starten, wenn wir das nächste Mal wieder alle zusammen sind.“ Obwohl sie lächelte, entging ihm nicht der Schatten, der über ihr Gesicht wanderte.
„War’s das, worüber du reden wolltest?“ Sie hatte die Stimme gesenkt, und ihre blauen Augen huschten zwischen Tür und Webcam hin und her.
Er nickte bedächtig. „Ja. Das war’s.“
Die Schatten hatten sich vertieft, und sie sah aus, als hätte sie seit achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen. „Du hast das arme Mädchen im Video gesehen. Du hast ihre Augen gesehen. Ich weiß, es ist lange her, aber Herrgott noch mal, Ryan.“ Sie hielt inne und rieb sich die Stirn. „Das ist nicht die erste Tote, die wir gesehen haben. Und … und ihre Augen. Das waren die Augen einer Toten. Das kann keine Schauspielerin vortäuschen.“
Ryan hatte zunächst gezögert, seiner Schwester die verstörenden Videos zu zeigen, doch er konnte das nagende Schuldgefühl nicht abschütteln und hatte mit jemandem darüber reden müssen. Mit jemandem, dem er vertraute. Außerdem hatte Lil kurz vor dem Abschluss ihres Studiums des Strafrechts gestanden, als ihr erster Ehemann gestorben war, und eine Laufbahn als kriminaltechnische Ermittlerin angestrebt. Seine Schwester liebte Filme, in denen ermittelt wurde, und verschlang CSI-Romane.
Außerdem hatte sie recht. Sie hatten bereits Tote gesehen. Ihre Mutter war an einer Überdosis gestorben. Ihr Vater hatte Selbstmord begangen. Wie konnten Eltern ihren Kindern so etwas antun?
Zunächst hatte Ryan so getan, als habe er das Video nicht gesehen, aber ein paar Tage später wurde er bereits schwach und schilderte seiner Schwester, was er entdeckt hatte. Eigentlich wollte er sie nicht damit belasten, doch inzwischen war sie seine einzige Vertraute.
Er nickte erneut mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich weiß. Und ich weiß auch, wo ich’s gesehen habe. Die Website ist ein Müllabladeplatz für perverse Typen wie Ted Bundy oder wie der alte Knacker aus Virginia, dieser Douglas Kilroy. Dort vertreiben sich solche Dreckskerle die Zeit. Die Videos sind alle echt. Wer auch immer die junge Frau war, sie ist tot. Und der schwarz gekleidete Mann hat sie umgebracht.“
Lil streifte sich Haarsträhnen aus der Stirn und seufzte. „Hör mal, ich weiß, mein Plan ist weit hergeholt. Das FBI ist schon eine ganze Weile hinter dir her, und vermutlich kommt es nicht in Frage, ihnen dieses Video vorzulegen, um sie gnädig zu stimmen oder von der schwarzen Liste runterzukommen, aber …“ Ihre Stimme brach, und sie wischte sich Tränen aus den müden Augen.
Es tat ihm weh, zu sehen, dass der Scheißkerl James Lil das Selbstwertgefühl geraubt hatte. Missbräuchliche Perverslinge waren alle gleich. Sie wollten, dass ihre Opfer alle Bande zu Familie und Freunden kappten, damit sie vollständig abhängig von ihnen waren.
Wäre Ryan in diesem Moment bei ihr gewesen, hätte er Lil umarmt und wieder aufgerichtet. Doch das ging nicht. Er durfte es nicht riskieren, das FBI auf Lil, Evan und Erin aufmerksam zu machen. Wenn man sie aufspürte, würde man Lil wegen Beihilfe zur Flucht oder unter einem anderen bescheuerten Vorwand drankriegen.
Auch ganz ohne sein Mittun befand sie sich in einer heiklen Lage.
Lillian hatte das Sorgerecht für Erin und Evan zugesprochen bekommen, doch ihr Vater konnte trotz der Missbrauchsanklage und des beantragten Kontaktverbots noch immer ein Besuchsrecht einfordern. Das alleinige Sorgerecht und ein Kontaktverbot für ein Elternteil waren juristisch selbst dann schwer durchzusetzen, wenn der Betreffende wegen häuslicher Gewalt angeklagt war.
Ryan knirschte mit den Zähnen. Wegen der blödsinnigen Rechtslage hatte seine Schwester in der Klemme gesteckt. Sie war davon ausgegangen, dass der Scheißkerl sie töten würde, wenn sie in Chicago bliebe. Wenn sie hingegen flüchtete und nicht vor Gericht erschien, könnte man ihr einen Verstoß gegen das Sorgerecht oder sogar Kindesentführung vorwerfen.
Da sie keine Wahl hatte, war sie mit Ryans Hilfe untergetaucht und hatte ihren Nachnamen und damit auch den ihrer Kinder geändert.
In Sicherheit war sie deshalb noch nicht.
Falls die Bundespolizisten Ryan bei Lil antrafen, würden sie Evan und Erin zu ihrem Vater geben. Ryan war zwar bereit, seine eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen, um ihr ein besseres Leben zu verschaffen, doch er wollte seine kleine Restfamilie nie wieder in Gefahr bringen.
Ryan schüttelte den Kopf. „Nein, Lil. Sag das nicht. Du hast recht. Ich meine, ich bin hierhergekommen, um diesen reichen Arschlöchern Geld abzunehmen, aber du hast recht. Wenn sie mit diesem perversen Scheiß auf dem Video zu tun haben, muss sich jemand darum kümmern. Und wie es aussieht, bin ich der Einzige, den es überhaupt schert.“
Sie wischte sich mit dem Hemdsärmel schniefend die Augen trocken. „Das ist der Zuschauereffekt.“
Er forschte in seinem geistigen Wörterbuch, wurde aber nicht fündig. „Der was?“
Sie beugte sich zur Kamera vor. „Wenn viele Menschen Zeuge eines Notfalls werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen Hilfe leistet, sehr viel geringer. Jeder nimmt an, sein Nebenmann werde einspringen, oder jemand werde Hilfe holen. Davon habe ich bei der Einführung in Psychologie gehört. Je mehr Menschen vor Ort sind, desto seltener tut einer was.“
Ryan fuhr sich durchs Haar und seufzte schwer. „Jesses. Ja, so wird’s wohl sein. So wie neulich.“
Vor einer Woche hatte seine Kontaktfrau in einer Gruppe von Reichen aus Virginia – eine Witwe mittleren Alters, deren Mann ein führendes Mitglied der Gruppe gewesen war – ihm von einem Gerücht erzählt, das ihr in dem Geheimclub zu Ohren gekommen war. Demnach hatte eines der Mitglieder die Angewohnheit, seine Aggressionen an einer bestimmten Bevölkerungsgruppe auszulassen: an Prostituierten.
Genau wie Ted Bundy und der Cleveland Strangler hatte es der Mann auf die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft abgesehen.
Seine Kontaktfrau in dem so genannten Geheimclub übte ihre Mitgliedschaft nur der Form halber aus. Ihr verstorbener Ehemann war zwar einer der Gründer gewesen, doch Mrs. N. hatte sich nie besonders für seine Aktivitäten interessiert. Zu offiziellen Anlässen war sie an der Seite ihres Mannes erschienen, doch ansonsten hatte sie die anderen Mitglieder eher gemieden.
Man musste es Mrs. N. immerhin anrechnen, dass sie sich bei den Dinnerveranstaltungen und ähnlichen gesellschaftlichen Anlässen zurückhielt. Die Männer und Frauen, die man dort traf, waren alle gleich. Reich und mächtig. Und da sie selbst in der Öffentlichkeit stand, konnte sie es sich nicht erlauben, sich ihren Zorn zuzuziehen.
Ryan räusperte sich und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Laptop. „Du hast recht. Jemand muss etwas unternehmen, und das ist die beste Gelegenheit, meinen Namen beim FBI reinzuwaschen.“
Bei seinem Ausflug in die Abgründe des World Wide Web war Ryan auf ein Forum gestoßen, das sich den voyeuristischen Vorlieben von Stalkern in aller Welt widmete. Sie tauschten dort Informationen aus, teilten Fotos und halfen einander beim Planen.
Dort hatte er das Video der blonden Frau gefunden und voller Abscheu mit angesehen, wie man ihr die Kehle aufschlitzte und sich eine Blutlache um sie ausbreitete.
Er hatte selbst erlebt, welchen Schaden ein Psychopath anrichtete, wenn man ihn gewähren ließ. Heidis Brutalität stand Ryan noch lebhaft vor Augen, und er war sich nicht sicher, ob er das Schuldgefühl ertragen könnte, den Tod von Unschuldigen nicht verhindert zu haben.
Lil war an der Reihe mit Seufzen. „Aber warum gerade du? Weshalb hat diese Mrs. N. dir davon erzählt? Hätte sie nicht zur Polizei gehen müssen?“
Er unterdrückte ein Aufstöhnen. „Sie ist Senatorin. Sie schützt ihren Ruf, und ihr schlechtes Gewissen reicht nicht aus, um ihre Karriere und ihr behagliches Leben aufs Spiel zu setzen. Willst du wissen, was ich glaube, weshalb sie mir und nicht jemanden anderem davon erzählt hat?“
Lil nickte.
Ryan rutschte auf dem Sitz. „Weil sie die anderen Leute kennt und genau weiß, dass es keinen Sinn hat, mit ihnen zu reden. Sie wollte ihnen nicht sagen, dass sie glaube, einer aus ihren Reihen entführe am Stadtrand Prostituierte und töte sie. Sie wollte ihnen nicht sagen, dass ihre eigene Schwester anschaffen geht und Angst hat, weil mehrere Frauen verschwunden sind.“
Lillians Miene verdüsterte sich. „Vermutlich sollen sie nicht erfahren, dass sie überhaupt eine Schwester hat, oder? Mein Gott, diese Leute sind doch alle gleich.“
Ryan atmete aus. „So ist es. Und offenbar hat ein notorischer Dieb mehr Gewissen als diese Arschlöcher. Falls sie überhaupt wissen, was das ist.“
Lil schnaubte und schüttelte den Kopf. „Das kann schon sein. Du wirst es tun, oder? Du gehst zum FBI?“
Wäre die Angst Mrs. N. nicht ins Gesicht geschrieben gewesen, als sie ihm von den verschwundenen Frauen erzählte, über die man munkelte, hätte Ryan sich nicht die Mühe gemacht, Nachforschungen anzustellen. Manchmal wünschte er, er hätte auf die Einflüsterungen des Teufels gehört, nicht auf die des Engels.
Schließlich hatte er ursprünglich deshalb mit Mrs. N. und deren elitären Freunden Kontakt aufgenommen, um sie zu bestehlen. Nicht um als Gutmensch dazustehen, der seine Tarnung aufs Spiel setzte.
Und doch war es so gekommen.
Trotz des flauen Gefühls in seinem Bauch nickte er. „Ja. Bald. Sehr bald.“
„Woher weißt du, dass das FBI nicht bereits informiert ist?“
Er deutete auf den Laptop. „Weil es die Website mit den Videos noch immer gibt. Wäre das FBI an der Sache dran, wäre sie längst offline, und das ‚Gerücht’ würde nicht mehr kursieren. Wäre das FBI dem Urheber des Videos auf der Spur, hätten diese Scheißer längst das Weite gesucht. Das sind nicht unbedingt alles Mörder, aber alle haben Dreck am Stecken.“
Lebenslanger Dieb hin oder her, Ryan war sicher, dass in seinem Schrank weniger Skelette versteckt waren als in denen dieser Leute.
Im Gegensatz zu ihm hatten sie jedoch die Macht, ihre Geheimnisse unter den Teppich zu kehren.
„Hey.“ Trotz ihrer Müdigkeit lächelte Lil breit. „Möchtest du mit Erin und Evan sprechen? Sie würden mit Pokémon bestimmt mal Pause machen für ihren Lieblingsonkel.“
Diesmal war sein Lächeln echt. „Gern.“
Es raschelte, als Lil vom Bett aufstand und aus dem Bild verschwand. Ihre Stimme klang gedämpft, doch er verstand sie trotzdem. „Hey, ihr beiden, Onkel Ryan ist im Videochat. Möchtet ihr mit ihm reden?“
„Ja!“ Sie antworteten ihr fast gleichzeitig und so freudig, dass Ryan schwer ums Herz wurde. Er hatte Mühe, sein Lächeln beizubehalten, denn der Ansturm der Emotionen trieb ihm die Tränen in die Augen.
Das war seine Familie. Seine einzige Familie.
Und er musste sie beschützen. Musste tun, was richtig war.
„Also, ich geh mal ins Bad. Ihr geht ins Schlafzimmer und sagt hallo. Ich komme gleich nach.“
Eine Bewegung am Bildschirmrand, dann hüpfte die achtjährige Erin aufs Bett. Der zwei Jahre jüngere Evan tat es seiner Schwester nach und winkte in die Kamera.
Ryan setzte das überzeugendste Lächeln auf, das er fertigbrachte. Obwohl James – soweit Lil wusste – Evan und Erin niemals angerührt hatte, hatten die beiden bereits mehr durchgemacht als die meisten Menschen in Ryans Alter. Lil ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie unter ihrem Mann gelitten hatte, doch ihre Kinder mussten viel davon unterschwellig mitbekommen haben.
Keins der Kinder fragte nach dem Grund für die Abwesenheit ihres Vaters. Ryan vermutete, sie kannten die Antwort eh. Sie hatten gespürt, dass sie bei ihrem Vater nicht sicher waren, und vertrauten ihrer Mutter.
„Hallo, ihr beiden.“ Ryan erwiderte das Winken seines Neffen. „Wie geht es euch? Hab gehört, heute war die Schule eher aus. Stimmt das?“
Erin nickte lächelnd. Mit ihrem dunklen Haar und ihren hellblauen Augen war sie das Ebenbild von Lil. „Ja, stimmt. Mom hat uns abgeholt, und wir waren shoppen. Sie hat uns sogar Süßigkeiten gekauft. Vielleicht gehen wir am Wochenende in den Zoo.“
Evans blaue Augen weiteten sich, als er in die Kamera sah. „Kannst du nicht mitkommen, Onkel Ryan? Mom sagt, das ist der zweitgrößte Zoo des Landes.“
Ihm wurde wieder schwer ums Herz. „Das täte ich liebend gern, aber ich hab zu tun.“ Das war nicht gelogen. Er war hier in Virginia, um ein paar reiche Leute abzuzocken, die mehr Geld als Verstand besaßen. Bislang lief das Vorhaben gut an, wenngleich er sich allmählich fragte, was es ihn kosten würde, Profit daraus zu ziehen.
Als Erin zur Tür sah, legte sich ein Anflug von Traurigkeit über ihr Gesicht. „Weißt du schon, wann du uns wieder besuchst?“
Auf einmal hatte er einen Kloß im Hals. Ryan schluckte und schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht. Ich muss …“ Er hielt inne, da er fürchtete, seine Stimme könnte schwanken. „Ich muss erst noch etwas erledigen. Ich muss ein paar Leuten helfen.“
„Mom macht sich Sorgen um dich“, sagte Evan. Er blickte seine Schwester an, und Erin nickte. „Ich hab ihr gesagt, dir passiert schon nichts, aber sie weint viel. Ich glaube, sie verschweigt uns etwas.“
Obwohl Ryan keine Mühe hatte, bei abgebrühten Kriminellen und im Dienst ergrauten Cops ein Pokerface zu wahren, fiel es ihm bei seiner Nichte und seinem Neffen schwer, sich seine Niedergeschlagenheit nicht anmerken zu lassen.
Er versuchte den Kloß im Hals, der sich in Stein verwandelt hatte, hinunterzuschlucken. „Genau, mir passiert schon nichts. Ehe ihr euch verseht, komme ich euch besuchen, versprochen.“
Er klang so überzeugend, dass er sich beinahe selbst geglaubt hätte.
Dabei war jedes Wort gelogen.
Drei Tage verstrichen, bis Ryan sich dazu aufraffen konnte, die kurze Fahrt zur FBI-Niederlassung in Richmond zu unternehmen.
Er hatte nachgeforscht, welche Agents vor einem Jahr an der Presley-Ermittlung beteiligt gewesen waren, und erleichtert festgestellt, dass Agent Winter Black – dieselbe Agent Black, die ihm geholfen hatte, sich aus Heidis Klauen zu befreien, und die ihn zu dem FBI-Van geleitet hatte, wo man ihm den Sprengstoffkragen abgenommen hatte – noch immer in Richmond arbeitete.
Damals war er zu sehr in Panik gewesen, um viel mitzubekommen, doch er hatte den Eindruck, Agent Winter Black sei eine von den Guten. Nicht nur deshalb, weil sie auf der Seite des Gesetzes stand, sondern weil sie damals so gewirkt hatte, als drehte sich bei ihr nicht alles um sie selbst und ihre Karriere.
Allerdings hatte sie damals eine große Last mit sich herumgeschleppt. Doch ungeachtet ihrer dunklen Vergangenheit war sie ihm vorgekommen wie jemand, der Gerechtigkeit anstrebte, nicht nur leichte Erfolge.
Jeder einzelne Schritt auf dem Weg zum Eingang fiel ihm schwer. Wenn er den Fuß auf den Boden setzte, fragte er sich, ob er seine Verluste nicht abschreiben, den reichen Säcken so viel wie möglich abknöpfen und sich, seine Schwester und deren Kinder in ein Land mit laxen Auslieferungsgesetzen schaffen sollte. In Panama hätten sie immer noch Zeit genug, Spanisch zu lernen.
Vielleicht hatte er bereits im Scherz darüber gesprochen, und Lillian hatte dazu geschwiegen. Evan, Erin und Lillian hatten genug durchgemacht. Der Alltag war auch so schon schwer für sie zu bewältigen, da durfte er ihnen nicht noch mehr aufbürden.
Alle seine Träumereien, durch eine Reise nach Panama oder in die Ukraine zum angeblichen Wohl seiner Restfamilie von der Bildfläche zu verschwinden, waren lächerlich. Ungeachtet seiner durchwachsenen Vergangenheit war Ryan klar, dass er keinen Schlaf mehr finden würde, falls er seine Schwester mit ihren Kindern in einem so wichtigen Moment im Stich ließe. Selbst im Knast war er für sie nützlicher, als wenn er in Osteuropa oder Südamerika leben würde.
Somit blieb ihm nur noch eine Möglichkeit.
Er musste einen Deal mit dem FBI machen. Er würde ihnen helfen, einen Serienmörder zu schnappen – ganz zu schweigen von all den Perversen und Fieslingen, welche die Fotos und Videos kommentiert hatten -, und dafür würde man ihm Milde gewähren. Und als Sahnehäubchen würde er dafür sorgen, dass sie von Kent Stricklands und Tyler Haldanes Manifest erfuhren. Vermutlich hatten sie bereits eine ausgedruckte Version irgendwo im Schrank liegen, doch er konnte es wenigstens versuchen. Man musste nutzen, was man hatte.
Die Entscheidung, mit dem FBI zusammenzuarbeiten, war riskant, doch Ryan hatte sich noch nie weggeduckt, wenn es darum ging, das Schicksal zu seinen Gunsten zu wenden.
Das leise Quietschen der Tür versetzte ihn in die Gegenwart zurück. Beinahe wäre er mitten in einem Vernehmungsraum des FBI eingepennt.
Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und blickte erst in den Einwegspiegel und dann zur Tür.
Ihm rauschte der Herzschlag in den Ohren. Er hatte feuchte Hände, doch sein Mund war so trocken wie ein altägyptisches Grab.
Das musste klappen.
Das FBI musste ihm helfen.
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