A Taste of... Winters Fluch
Erstes Kapitel
Ashlyn Freitas hatte Verspätung, aber trotzdem schaute sie auf dem Weg zur Arbeit in ihrem üblichen Starbucks vorbei und holte sich einen Decaf Latte. Was hatte man denn davon, sich zur Filialleiterin hochzuarbeiten, wenn man nicht mal ab und zu ein paar Minuten zu spät kommen konnte?
Von ihrem Becher stieg nach Vanille duftender Dampf auf, und beim Hinausgehen trank sie einen Schluck des heißen Kaffees. Auf dem Weg zur American Bank and Trust nebenan klackerten ihre soliden blauen Absätze über den Bürgersteig.
An der Tür kam ihr Lenny, der schon etwas ältere Sicherheitsmann, wie immer zuvor. Die Knöpfe seines dunkelblauen Hemdes spannten den Stoff, als er sich eilig aufsetzte und sich mit einem verlegenen Lächeln Pop-Tart-Krümel vom Bauch wischte. Er erhob sich von seinem üblichen Posten, einem Stuhl bei der Tür. Wenn jemand beständig war, dann er.
Als er die Eingangstür aufschloss und sie durchwinkte, begrüßte Ashlyn ihn fröhlich. Er lächelte so breit, dass das Fehlen eines Backenzahns auffiel. „Guten Morgen, Chefin.“
„Guten Morgen, Sicherheitsmann.“
Auch hier: Beständigkeit. So begrüßten sie einander schon die letzten zwölf Jahre.
Den Teil mit der „Chefin“ hatte er allerdings erst vor acht Monaten hinzugefügt, als die Beförderung, für die sie sich halb totgeschuftet hatte, endlich Wirklichkeit wurde.
Sie ging an den noch unbesetzten Schaltern vorbei und eilte dahinter durch den Gang, der zu den Büroräumen führte. Ihr eigenes war das größte. Es gab ihr immer noch einen kleinen Kick, wenn sie in das geräumige Zimmer mit Fenster trat, das mit einem großen Kirschholzschreibtisch und einem schlanken Computer ausgestattet war. Sie hatte hart für dieses Büro gearbeitet und liebte alles daran, von der majestätischen Topfpalme bis zum Kombidrucker, den sie mit keinem Kollegen zu teilen brauchte.
Ashlyn stellte ihren Kaffee neben der Tastatur ab, schlüpfte aus ihrem marineblauen Leinen-Blazer und hängte ihn über die Rücklehne ihres Bürosessels. Dann schaltete sie zum letzten Mal den Computer ein.
In zwei Stunden und zwölf Minuten würde sie tot sein.
Um vier Minuten vor zehn hallte der erste Schuss durchs Gebäude. Im ersten Moment glaubte Ashlyn, ein Auto habe eine Fehlzündung gehabt. Sie warf unwillkürlich einen Blick nach draußen zum El Camino Real, wo der Verkehr reglos vor einer roten Ampel verharrte. Noch bevor sie die Straße mustern konnte, hörte sie Louise, eine vor Kurzem eingestellte Schaltermitarbeiterin, schreien. Der hohe, schrille Laut brach beinahe genauso schnell ab, wie er begonnen hatte.
Ashlyn sprang von ihrem Stuhl auf, der rollte nach hinten und krachte gegen einen Aktenschrank. Ihr Herz flatterte in der Brust, und ihre Handflächen wurden sofort feucht. Wieder ertönte ein Schuss, und unmittelbar vor ihrer Bürotür hörte sie ein Ächzen und das Aufschlagen eines Körpers. Sie versuchte mit zitternder Hand, die Tür aufzuschieben, doch das Holz stieß gegen etwas Schweres. Sie schob kräftiger, aber die Tür öffnete sich nicht weiter als dreißig Zentimeter.
Dort, wo sie den Blick freigab, verschandelte eine sich ausbreitende rote Lache den frisch gesaugten Teppichboden.
Ashlyn wich zurück, und in ihrer Kehle stieg Galle auf. Vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte, und für einen schrecklichen Moment glaubte sie, ohnmächtig zu werden.
„Komm schon, Ashlyn.“ Die Worte klangen in ihren eigenen Ohren jämmerlich und schwach, besonders in den vier Wänden ihres Büros. Sie war für so etwas ausgebildet, rief sie sich in Erinnerung. Sie schluckte kräftig. Sicherheitsseminare. Von der Bankzentrale angeordnetes Online-Training, in dem sie sich auf billigen, mit schlechten Schauspielern produzierten Videos anschauen musste, was sie bei einem Raubüberfall zu tun hatte.
Natürlich hatten die banalen Instruktionsvideos sie nicht auf den Anblick des auf dem Boden des Korridors ausgestreckten Lenny vorbereitet, wie er mit einem bestürzten Ausdruck in den gebrochenen Augen zur Decke hinaufstarrte.
Einen Moment lang schaute sie aus dem Fenster und wünschte, sie könnte ausbrechen und sich in der wunderbaren Normalität des Stadtzentrums verlieren, wo es wie jeden Montagmorgen von Menschen wimmelte. Der Drang, hinauszuklettern, wegzulaufen und die Situation hinter sich zurückzulassen, war beinahe überwältigend.
Doch das war nicht möglich. Mit einer hastigen Bewegung, die die blonden Ton-in-Ton-Strähnchen ihres Kurzhaarschnitts in Schwingung versetzte, schnappte sich Ashlyn das Telefon vom Schreibtisch und wählte sicherheitshalber die 911. Die drei Schaltermitarbeiter hatten jeder eine Notfalltaste unter der Theke. Doch als jetzt in ihrem Telefon die Verbindung zur Notrufzentrale zum Leben erwachte, hörte sie einen der Schaltermitarbeiter ihren Namen rufen. Es war Greg, und seine Stimme klang verängstigt und schrill.
Einen Moment lang erstarrte sie. Vor ihr inneres Auge trat das Bild ihres Mannes Robert. Wie er sie heute Morgen über seinem Joghurt mit Granola hinweg angelächelt hatte, mit achtundfünfzig noch immer so gutaussehend und einnehmend wie einmal mit vierundzwanzig. Er hatte seine Firma für so viel Geld verkauft, dass sie den Rest ihres Lebens behaglich davon leben könnten, und sich zur Ruhe gesetzt. Er hatte sie gebeten, dasselbe zu tun – das Geld würde für sie beide reichen –, und redete nun öfter darüber, einen Caravan zu kaufen und damit ein wenig durchs Land zu fahren.
Sie legte das Telefon sanft auf den Tisch, als die blechern klingende Stimme der Frau in der Notrufzentrale eine Frage wiederholte. Hätte sie Robert doch seinen Wunsch erfüllt. Aber sie war so stolz auf ihre Beförderung gewesen.
Sie kämpfte die Tränen zurück und straffte sich.
Sie war nicht der einzige Mensch in der Bank. Inzwischen hatte bestimmt jemand die 911 gewählt. Die Polizei war bereits unterwegs. Das musste sie glauben.
Aber sie war die Filialleiterin und konnte nicht einfach auf die Beamten warten.
„Ich komme raus“, rief sie, bemüht, ruhig zu klingen. „Greg, ich kriege die Tür nicht auf, würden Sie mir bitte helfen?“
„Machen Sie schon“, erklang die gedämpfte Stimme einer Frau. „Und beeilen Sie sich.“
Viel zu schnell ging die Tür ein Stück weiter auf, da Lennys Leiche draußen weggewälzt wurde. Als sie jemanden jämmerlich würgen hörte, zog sich, davon angesteckt, auch ihr eigener Magen zusammen. Sie trat durch die erweiterte Öffnung nach draußen und bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, wie ihre Schuhe auf dem nassen Teppich schmatzten.
„Es tut mir leid, Mrs. Freitas“, klagte Greg. Er wirkte jünger als seine sechsundzwanzig Jahre und hatte die dunkelbraunen Augen im bleichen Gesicht weit aufgerissen. Mit zitternden Armen zerrte er Lennys schlaffe Leiche noch weiter von der Tür weg. „Ich sollte die Chefin rufen.“
„Schon gut.“ Sie lächelte matt und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, sich tiefer in den hinteren Bereich der Bank zurückzuziehen. Das tat er und huschte tief gebückt davon, als hätte er Angst, eine Kugel in den Rücken zu bekommen.
Hoffentlich würde er die anderen Angestellten warnen, damit sie sich ein Versteck suchten.
Mit gestrafften Schultern trat Ashlyn aus der Tür und setzte unwillkürlich ihr professionellstes Lächeln auf. „Ich bin Ashlyn Freitas. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Vor ihr, auf der anderen Seite der Theke in der leeren Schalterhalle, standen zwei Nixons.
Es handelte sich um einen Mann und eine Frau; beide Gangster waren groß, etwa einen Meter achtzig. Sie trugen bequeme, unauffällige Bürokleidung. Ihre Gesichter waren jedoch durch anzüglich grinsende Richard-Nixon-Gummimasken verdeckt. Als sie Kinder waren, hatte Ashlyns Bruder einmal an Halloween eine ähnliche Maske getragen, nur um ihren Dad zu ärgern, einen eingeschworenen Republikaner.
Durch die Augenlöcher in den Masken glitzerten ihr zwei Augenpaare entgegen. Die des Mannes waren strahlend blau, und ihr Ausdruck war nicht zu deuten. Die der Frau waren braun und funkelten vor wilder Freude.
„Helfen Sie bitte den jungen Damen, diese Tasche für uns zu füllen. Schnell.“ Der Mann deutete mit einer großen Pistole auf eine geräumige schwarze Segeltuchtasche.
„Keine Färbeeinheiten, sonst bringe ich Ihre Scheiß-Familie zur Strecke“, fügte die Frau zähnefletschend hinzu. „Und sagen Sie mir nicht, Sie hätten nicht genug Bargeld da. Ich habe einen Blick in Ihr System geworfen und weiß bis auf den Penny genau, wie viel hier liegt.“
„Natürlich.“
Wer war diese Frau, dass sie Zugang zu ihrem System gefunden hatte? Oder bluffte sie nur? All diese Fragen schwirrten Ashlyn durch den Kopf.
Mit zitternden Fingern gab Ashlyn den Code ein, der hinter den jeweiligen Bankschaltern den Geldbehälter des Ausgabeautomaten öffnete. Ihre Hände bewegten sich ungeschickt und zuckend. Die ganze Situation fühlte sich unwirklich an.
„Räumt die hier leer“, forderte sie Louise und Chantel auf. Beide Frauen sahen so aus, als würden sie gleich in Ohnmacht fallen. Chantel bebte von stummen Schluchzern, und Tränen liefen ihr die runden Wangen hinunter. Sie war im sechsten Monat schwanger.
Bemüht, freundlich zu sprechen, mahnte Ashlyn die junge Frau zur Ruhe, da sie Angst hatte, die Gangster könnten sich durch die Tränen provoziert fühlen, sie zu erschießen. Chantel unterdrückte ihr Weinen.
Ashlyn blickte zur weiblichen Nixon auf. „Der Rest befindet sich in einem anderen Raum.“
Die weibliche Nixon deutete mit einer Kopfbewegung auf ihren Partner. „Nehmen Sie ihn mit. Und keine Mätzchen, sonst muss ich noch ein paar von ihren Mitarbeitern erschießen, Frau Filialleiterin.“
„Ich begleite Sie.“ Die Stimme des Mannes klang angenehm und höflich, beinahe gütig, und hatte einen leichten irischen Akzent.
Seine Augen jedoch waren eiskalt, ein klares, kühles Blau, in dem keinerlei Emotionen lagen. Sie glaubte keinen Moment, dass er weniger gefährlich war als seine Begleiterin. Auch er trug eine Pistole, und er schnappte sich die Segeltuchtasche. In einer Parodie von Höflichkeit bedeutete er ihr, ihm voranzugehen.
Sie öffnete die gesicherte Tür des Raums, in dem das Bargeld aufbewahrt wurde, und warf ungeschickt mit beiden Händen die von Banderolen gehaltenen Zwanzig-, Fünfzig- und Hundertdollarbündel in die Tasche, die er ihr hinstreckte.
„Beeilen Sie sich, Lady“, brummte der Mann. „Ich fürchte, dass meine Partnerin gleich die Geduld verliert.“
Sobald die Aufgabe erledigt war, kehrten sie in die Schalterhalle zurück. Der männliche Nixon packte nun auch die Scheine aus den Geldbehältern in die Tasche und schwang die Last dann über die Schulter. „Können wir gehen, Herzchen?“, fragte er die weibliche Nixon.
Danke, lieber Gott. Sie gehen.
Ashlyn Freitas sackte fast vor Erleichterung in sich zusammen. Sollten die beiden doch entkommen. Sie wollte, dass sie verschwanden. Wer wusste, was passieren würde, wenn die Polizei auftauchte. Dann würde man sie als Geiseln nehmen. Und vielleicht töten.
Wie den armen Lenny.
Ihre Beine fühlten sich so an, als würden sie gleich unter ihr nachgeben, gummiweich. Mit einer willentlichen Anstrengung schob sie Lennys Schicksal aus ihren Gedanken.
„Wir gehen“, antwortete die Frau. „Es fehlt nur noch eines.“
Sie richtete die Pistole auf Ashlyn, die nur einige Schritte entfernt stand.
„Moment …“ Der Mann trat einen halben Schritt vor, doch er war zu langsam.
Beinahe im selben Augenblick ertönte ein ohrenbetäubender Knall, von einem Blitz begleitet, dem sofortige Dunkelheit folgte. Ashlyn, die nichts mehr sah, spürte, wie sie rückwärts geschleudert wurde und gegen etwas Hartes krachte. Der grelle Schrei einer Frau hallte durch ihren Kopf und verstummte. Es war sonderbar … sie empfand keinen Schmerz. Sie spürte überhaupt nichts.
Ashlyn Freitas, Filialleiterin der American Bank and Trust in San Clemente, Kalifornien, war tot, bevor sie auf dem Boden aufschlug.
Zweites Kapitel
Winter blendete den Streit zwischen den Special Agents Sun Ming und Miguel Vasquez aus, der im Großraumbüro in der Nähe ihrer Box tobte. Sie blickte nicht von ihrem Computerbildschirm auf.
Als FBI-Agentin hatte sie Zugang zu einer Vielzahl von Werkzeugen zum Aufspüren von Verbrechern. Sie beabsichtigte, jedes einzelne zu nutzen, um einen der gefährlichsten Serienmörder der modernen Geschichtsschreibung zu identifizieren. Gerade war sie bis über beide Ohren in Mörderfotos versunken.
„Black“, blaffte jemand barsch.
Diese Stimme drang zu ihr durch. Sie klang, wie wenn ein Auspuffrohr über Schotter schleift.
Sie rollte ihren Stuhl rasch zurück, schob etwas unter die Akten auf ihrem Schreibtisch und stand auf. „Sir?“
Mit einer von seinem untersetzten, muskulösen Körper ausstrahlenden Gereiztheit marschierte der Leiter der Task Force für Gewaltverbrechen des Bezirks Richmond, Special Agent in Charge Max Osbourne, zu ihrer Box. Selbst Sun und Miguel zogen sich einen Schritt zurück und brachen ihren Streit ab.
Sein scharfer Blick durchbohrte Winter. „Ist Ihr Arm richtig verheilt?“
Hinter Max hob Noah Dalton den Kopf über die Wand seiner eigenen Box und schüttelte mit einem warnenden Blick den Kopf. Der Blick war leicht zu interpretieren. Er bedeutete Ärger.
Winter und Noah hatten die FBI-Ausbildung in Quantico gemeinsam durchlaufen, und nach dem letzten Fall, in dem sie als Team ermittelt hatten, wusste sie, dass sie ihr Leben in seine Hände legen konnte. Das hatte sie ja auch tatsächlich einmal getan. Noahs Kopf verschwand wieder, und Winter öffnete den Mund, um Max zu sagen, dass noch ein weiterer Check-up anstand, bevor man sie für den regulären Dienst freigeben würde.
Unglückseligerweise wartete Max aber Winters Antwort nicht ab.
„Vasquez, zurück an Ihren Schreibtisch“, befahl er dem Mann, der sich noch immer langsam von Winters Box zurückzog. „Mir egal, wenn der Arzt sagt, Sie seien kampffähig. Sie sehen beschissen aus.“
Das stimmte. Miguels Gesicht war ungewöhnlich bleich, abgesehen von zwei wütend roten Flecken auf seinen Wangenknochen. Er war gerade erst von der Liste der nicht Einsatztauglichen gestrichen worden und noch nicht wieder hundertprozentig in Ordnung. Mit steifen Schultern murmelte er etwas Unfreundliches auf Spanisch und kehrte zu seinem Platz zurück, dank seiner Blinddarmoperation mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen.
Sun, die sich eindeutig als Siegerin fühlte, lächelte noch breiter. Sie drehte sich um, um an ihren eigenen Schreibtisch zurückzukehren, doch Max hielt sie auf.
„Black, Sie arbeiten jetzt mit Ming zusammen.“
Schlagartig wechselte Suns Gesichtsausdruck von selbstgefällig zu entsetzt, und Winter hätte das komisch gefunden, wäre sie nicht genauso geschockt gewesen. Osbourne lachte einfach nur leise, ein raues Glucksen, das er so selten hören ließ, dass es wie eingerostet wirkte.
„Kommen Sie schon, Sie beide. Sie sind ja wohl teamfähig. Ming, Sie leiten die Ermittlungen. Bringen Sie Black aufs Laufende.“
Er kehrte in sein Büro zurück, ohne sich um die Dynamik zu kümmern, die er gerade in Gang gesetzt hatte.
Sun und Winter hassten sich bis aufs Blut.
Als Winter der Abteilung für Gewaltverbrechen gerade frisch zugeteilt worden war, hatten ihre Kollegen ihren Mangel an Erfahrung gutmütig ausgenutzt. Sie hatten ihr die Verantwortung für die wahren Berge von Schreibkram aufgebürdet, die bei ihrer Arbeit anfielen.
Winter hatte ihren Abschluss in Quantico gleichzeitig mit Noah gemacht, und sie waren auch gleichzeitig eingestellt worden, aber Noah hatte immerhin schon Berufserfahrung als Polizist. Dazu kam seine umgängliche Art, und so hatte er sich mühelos in die Abteilung integriert. Für Winter galt das weniger. Er hatte abgewartet, um ihr Gelegenheit zu geben, das Problem selbst zu lösen. Schließlich aber hatte er ihr gesteckt, welches Spiel man mit ihr trieb.
Winter hatte an Sun ein Exempel statuiert, um allen klar zu machen, dass sie künftig für niemanden mehr als Verwaltungsassistentin zur Verfügung stand. Sun war sozusagen der größte Hund im Hof gewesen oder zumindest der, der am lautesten gebellt hatte, und Winter hatte sie vor versammelter Mannschaft zusammengefaltet.
Nach dem Ausdruck in Suns dunklen Augen zu schließen, hatte sie ihr das nicht verziehen und würde es auch nicht so bald tun.
Sun unterbrach das angespannte Schweigen. Ihre Worte klangen, als hätte man sie mit dem Messer aus ihr herausgekitzelt. „Jetzt ist es zu spät für eine Informationssitzung. Komm morgen um sieben, dann bringe ich dich auf den neuesten Stand. Pack eine Reisetasche. Wir werden fliegen.“
Sie wartete die Antwort nicht ab.
„Na toll“, sagte Winter leise zum Rücken der Davongehenden und ließ sich in ihren Bürosessel zurücksinken. „Ich kann’s gar nicht erwarten.“
Sie zog das kleine Skizzenbuch hervor, das sie unter eine Aktenmappe geschoben hatte, als Max Osbournes sie beim Namen gerufen hatte. Von dem dicken weißen Papier sah das Gesicht eines Mörders zu ihr auf.
Mit seinem rundlichen Gesicht und den weichen, bescheiden wirkenden Zügen sah der Mann dort aus wie jemandes gütiger Großvater. Oder mit dem kurz geschnittenen Bart und den rosigen Wangen vielleicht wie ein Weihnachtsmann im Kaufhaus. Aber seine Augen hatten eine tintenschwarze Färbung. In ihnen strudelte das Böse. Das war zu erkennen, es schien körperlich spürbar, auch wenn sie keine ausgebildete Zeichnerin war.
Der Preacher.
Als sie dreizehn gewesen war, hatte er sie auf die denkbar brutalste Weise ihrer Familie beraubt und sie als tot liegen lassen. Nach über einem Jahrzehnt würde sie das vollbringen, was den anderen mit dem Fall betrauten FBI-Agents nicht gelungen war. Sie würde das gestörte Arschloch finden und zur Strecke bringen.
„Wer ist das denn?“ Noah, der sich über ihre Schulter beugte, sprach mit beiläufiger Stimme, doch der Blick seiner grünen Augen war scharf, als er dem ihren begegnete.
Sie blickte zu ihm auf. Er kannte ihre Geschichte. Und er war eigentlich zu klug, um ihr nachzuschnüffeln.
„Machst du Feierabend?“, fragte sie stattdessen, klappte das Skizzenbuch zu und steckte es in ihre Handtasche.
„Ja. Wie wär’s, wenn du mich zu meinem Wagen begleitest? Um diese Jahreszeit wird es draußen früh dunkel.“ Er grinste, was ein Grübchen in seine Wange treten ließ. „Weißt du, im Dunkeln habe ich Angst.“
Winter verdrehte die Augen, inzwischen ziemlich immun gegen seinen mühelosen Charme. „Gern.“ Sie packte ihre Sachen und schlüpfte in ihren leichten, wollenen Caban-Mantel. Noah zog mit einer lässigen Handbewegung, die sie kaum bemerkte, ihren Zopf aus dem Kragen.
„Weißt du“, begann er, sobald die Lifttür zuglitt. „Du solltest Sun eine Chance geben.“
„Zu was? Mir ein Messer in den Rücken zu stoßen? Wenn du ihr Gesicht heute so gesehen hättest wie ich, wüsstest du, dass sie drüber nachdenkt.“
Noah schüttelte den Kopf und seufzte. „Ihr beide seid euch ganz schön ähnlich, weißt du.“
Winter verzog finster das Gesicht. Sich gegen eine so idiotische Behauptung zu verteidigen, wäre dämlich, aber sie konnte es ihm nicht durchgehen lassen. „Ich …“
Er hob beschwichtigend die Hände. „Was ich sagen will: Beide seid ihr starke, intelligente, fähige Frauen. Und keine von euch würde ich flexibel nennen. Sie mag ja so umgänglich sein wie ein Stachelschwein, aber sie ist gut, sonst hätte Max sie längst gefeuert.“
Das Klingeln des Lifts, der im Erdgeschoss ankam, schnitt ihre saftige Antwort ab.
„Du bist einfach zu nett, Dalton. Immer versuchst du, den Friedensstifter zu spielen.“
Noah zuckte mit den breiten Schultern und trat einen Schritt vor, um die Tür aufzuhalten. „Wenn alle miteinander klarkommen, Darling“, sagte er, den Texas-Akzent extra dick drübergelegt wie Barbecue-Sauce auf Steak, „läuft alles viel einfacher.“
Der Himmel war dunkel, und Blitze zuckten am Horizont. In der vergangenen Woche war es in Richmond selbst für Anfang Dezember kalt gewesen, doch jetzt schob sich eine Warmfront vor. Es kündigten sich heftige Unwetter an.
Das Wetter passte zu ihrer Stimmung. Aufgewühlt und grimmig.
In der Ferne grollte drohender Donner, und auf dem Weg zu ihren Autos peitschte ein Windstoß die Luft. „Und wie soll ich Ihrer Meinung nach mit Sun umgehen, Dr. Phil?“
Beim Lächeln schimmerten seine Zähne im Dunkeln. „Tu einfach, was sie dir sagt, und beiß dir auf die Zunge.“
Winter kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Schlüsselbund. „Na klar, genau so arbeite ich ja immer. Worum ging’s eigentlich bei dem Geschrei zwischen Miguel und ihr?“
„Anscheinend teilt er nicht ihre Ansicht über den Fall, in dem sie seit Neuestem ermittelt. Er meinte, sie sei verrückt.“
Winter schnaubte. „Gerade war er noch wegen eines geplatzten Blinddarms im Krankenhaus, und schon meldet sich sein Todestrieb wieder?“
„Er hat allerdings nicht ganz unrecht. Die meisten Banken halten nicht so viel Bargeld vorrätig, dass sich die Sache lohnen würde. Kluge Ganoven lassen einen bewaffneten Raubüberfall normalerweise bleiben: zu riskant.“
„Ein bewaffneter Raubüberfall? Etwa American Bank and Trust in San Clemente?“
Noah nickte und verzog das Gesicht. „Allein wegen der Kaltblütigkeit der Morde waren die Nachrichten voll davon. Ein Sicherheitsmann und die Filialleiterin der Bank sind tot. Sun denkt, dass es etwas anderes ist als der übliche stinknormale Bankraub, und hat Osbourne überredet, ihr den Fall zu übergeben.“
„Es liegt mir fern, anderer Leute Bauchgefühl zu kritisieren“, sagte Winter, die gerade die Tür ihres alten Civic aufschloss, selbstironisch. „Aber haben wir keine Dienststelle in San Diego?“
„Das FBI ermittelt bei Bankraub einfach nicht mehr so hartnäckig wie früher, und in San Diego ist viel los, da haben sie alle Hände voll zu tun. Natürlich gehen auch wir Raubüberfällen nach, aber seit 9/11 ermittelt eher die örtliche Polizei, außer in gravierenden Fällen. Derzeit interessiert sich niemand beim FBI für diese Sache oder hat Zeit dafür. Außer Sun.“
„Und ab morgen noch ich. Juhu.“
Sie ließ sich hinters Steuer gleiten. Die ersten dicken Regentropfen klatschten herab und sprenkelten die Windschutzscheibe.
„Jetzt mal ernsthaft, geht es dir eigentlich schon gut genug? Bist du so weit, dass du in einen neuen Fall einsteigen kannst?“ Mit besorgter Miene hielt Noah die Tür lose in der Hand.
„Es geht mir bestens.“ Das stimmte. Vor einer Woche waren an ihrem Arm die Fäden gezogen worden, und sie hatte die verschriebenen Schmerzmittel gar nicht gebraucht. „Zum Glück hast du dich ja nicht an Speed orientiert und beschlossen, auf die Geisel zu schießen.“
Sie bemühte sich, Noah beruhigend anzulächeln, doch es fühlte sich gezwungen an.
Sicher, die Wunde in ihrem Arm war verheilt, aber sie hatte einen neuen wiederkehrenden Albtraum, der sich zu ihrem ohnehin schon blutrünstigen Repertoire gesellte. Darin kamen die winzigen missgebildeten Skelette verscharrter Kinder und der heiße Lauf einer Pistole vor, die ihr in den Nacken gedrückt wurde.
„Wie geht es Parrish?“
Die Frage klang so, als hätte jemand sie Noah unter Folter abgerungen. Winter musste wider Willen lächeln. Er mochte den Chef der Abteilung für Verhaltensanalyse nicht besonders. „Ich dachte, du kannst den Supervisory Special Agent nicht ausstehen.“
Noah blickte finster und rümpfte die Nase. „Der SSA ist ein verkrampftes Arschloch, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er dich auch weiterhin zur dunklen Seite überreden will, ich meine dazu, zur Verhaltensanalyse zu wechseln. Aber ein Agent, der sich zwei Kugeln einfängt, um einen anderen zu schützen, und lange genug lebt, um mit den Narben zu prahlen, hat zumindest Respekt verdient.“
„Ich schreibe dir nachher, wie es steht. Ich fahre gleich zu ihm. Und jetzt geh, bevor dich ein Blitz trifft.“ Der Regen prasselte inzwischen heftiger herab, und das zuckende Licht, das über den Parkplatz flackerte, wurde greller.
Noah wirkte nicht glücklich darüber, dass sie Aiden besuchte, verabschiedete sich aber mit der Parodie eines militärischen Grußes und einem Grinsen, bevor er locker zu seinem Pick-up trabte.
Von seinem Spott verärgert, schlug Winter die Autotür ein bisschen lauter zu, als nötig gewesen wäre. Zwischen Noah Dalton und Aiden Parrish herrschte eine merkwürdige, kleinliche Rivalität, und beide brachten sie damit auf die Palme. Während des letzten Falls, in dem sie zu dritt ermittelt hatten, musste Winter ständig gegen den Impuls ankämpfen, sie mit den Köpfen gegeneinanderzuschlagen. Wenn die beiden sich nicht wechselseitig unter Beschuss nahmen, verbündeten sie sich gegen sie.
Sie ließ den Motor an und schaltete wegen der beschlagenen Scheiben das Gebläse ein. Die roten Rückleuchten von Noahs Ford schimmerten durch die Feuchtigkeit, die ihre Windschutzscheibe bedeckte. Mit einem Summen kündigte ihr Handy eine Nachricht an: Ich fahre nicht vor dir los.
Als Antwort schickte sie ihm ein Mittelfinger-Emoji.
Fast unmittelbar darauf erhielt sie ein trauriges kleines gelbes Gesicht zurück.
Seufzend wischte sie die beschlagene Scheibe mit dem Mantelärmel ab. Noahs unangebrachte Ritterlichkeit war zu tief in ihm verwurzelt, um sie jetzt noch zu ändern. Der Versuch, seine Beschützernatur zu dämpfen, wäre etwa so aussichtsreich, wie mit dem Kopf gegen eine sehr gutaussehende Backsteinwand zu schlagen. Sie legte die Fahrstellung ein und bemühte sich, den großen roten Pick-up zu übersehen, der den Parkplatz mit höflichem Abstand zu ihr verließ.
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