Ein Vorgeschmack auf... Winters Erlosung
Erstes Kapitel
Tala Delosreyes überlebte die düsteren Prophezeiungen ihrer Mutter.
Als sie zehn war, glaubte Talas Mutter ernsthaft, sie werde ihre Kindheit nicht durchstehen. Schon als junges Mädchen war Tala zu furchtlos und eigensinnig. Ein Adrenalinjunkie, hieß es. Sie fuhr bis ins Teenageralter BMX-Räder und nahm sogar an einem Red-Bull-Wettbewerb teil, ohne sich einen einzigen Knochen zu brechen.
Auch als sie das Teenageralter überstanden hatte und Anfang zwanzig war, sah ihre Mutter keinen Grund für gesteigerten Optimismus. Unter Tränen lamentierte sie, ihre Tochter werde jung sterben, wenn sie im reifen Alter von fünfundzwanzig Jahren der New Yorker Feuerwehr beitrete. Aber Tala überlebte 9/11. Und nicht nur das, sie gehörte zu den wenigen glücklichen Feuerwehrleuten, die in den Jahren nach der Katastrophe keine schweren gesundheitlichen Folgen zu verzeichnen hatten.
Trotzdem warnte Talas Mutter, sie werde keine vierzig werden, wenn sie sich bei der Metropolitan Police von Washington D.C. bewerbe. Mit einundvierzig erhielt Tala die Tapferkeitsmedaille, weil sie eine Schießerei in der Nähe der Washington Mall verhindert hatte. Der Präsident der Vereinigten Staaten überreichte ihr die Medaille persönlich, während ihre Mutter an ihrer Seite in ein Taschentuch schluchzte.
Fortan verzichtete ihre Mutter auf weitere Prophezeiungen.
Das hätte sie besser nicht getan.
***
„Schon was vor nach der Arbeit?“
Braeden Carpenter gab sich mit einem Nein niemals zufrieden, aber nervig war er nicht. Mit seinen großen braunen Augen und seinem ernsten Gesicht war er zu süß, um zu nerven. Zu Braeden Carpenters Pech hatte Tala jedoch eine feste Regel: Sie datete keine Kollegen.
Dieser Mann aber brachte sie in Versuchung.
„Ich habe was vor, nur leider bist du nicht dabei, Brae.“ Um ihren Worten die Schärfe zu nehmen, schenkte Tala ihm ein strahlendes Lächeln und schlüpfte in die schwere Jacke. Sie zog ihren dicken Zopf unter dem Kragen hervor und ergriff die Handtasche. „Ich treffe meine Mom. Sie hat mich mit Rindfleisch-Kaldereta geködert. Sie meint, ich hätte sie in letzter Zeit vernachlässigt.“
Braeden nahm seinen Rucksack in die Hand und folgte ihr zum Eingang der Wache. „Ich glaube, diese Kaldereta würde mir schmecken“, sagte er hoffnungsvoll.
Der Dezemberwind riss Talas Lachen mit sich fort. „Du kannst doch Kaldereta nicht von Kawalie unterscheiden.“
Er grinste ungeniert. „Wer weiß, am Ende bin ich Experte für die philippinische Küche?“ Als sie skeptisch eine Braue hob, lachte er und zuckte mit der Schulter. „Ich weiß, dass da Rindfleisch drin ist. Und wenn deine Mutter es zubereitet, schmeckt es bestimmt großartig.“
„Vielleicht nächstes Mal“, sagte Tala. Kaum hatte sie es ausgesprochen, wurde ihr klar, dass es ihr ernst damit war. „Meine Mutter mag keine Veränderungen. Ich muss sie erst darauf vorbereiten, dass ich einen Mann zum Essen mitbringe.“
Sie hatte ihren alten Dodge Durango erreicht und zog mit durchfrorenen Fingern den Schlüsselbund aus der Tasche. Die Temperatur lag knapp über null, doch wegen des Winds fühlte es sich kälter an. Obwohl Braes Wagen neben ihrem stand, machte er keine Anstalten einzusteigen, sondern kam näher und hielt mit seinen breiten Schultern die eisigen Böen ab.
„Maligayang Pasco, Officer Delosreyes“, wünschte er ihr auf Tagalog. Sein Akzent klang bezaubernd.
Er setzte sein Grübchenlächeln auf, von dem es ihr in den Zehen kribbelte, seit er im Juni zur Einheit gekommen war, und neigte sich vor, um sie zu küssen. Sie hatte keine Gelegenheit mehr, zurückzuweichen oder zu überlegen, ob sie ihn küssen wollte. Seine warmen, festen Lippen nahmen sie zu sehr in Beschlag. Wie lange war es eigentlich her, dass sie mit Josh Schluss gemacht hatte? Zwei Jahre? Drei?
Braes Lippen berührten ihren Mund nur für einen Moment, da wich er schon wieder zurück und zwinkerte. „Vielleicht reden wir über das Essen, wenn du aus dem Urlaub zurück bist.“
„Vielleicht“, erwiderte sie ein wenig atemlos. „Frohe Weihnachten.“
Vielleicht, dachte Tala während der Heimfahrt, sind manche Kollegen gar keine so üblen Dates. Sie hatte das Gefühl, dass ihr in Braeden Carpenters Fall sogar ihre Mutter beipflichten würde.
Zweites Kapitel
Ich ging in der Wohnung umher, um ein Gefühl für die junge Frau zu bekommen, die hier lebte. Ich ließ mir Zeit und hatte meinen Spaß, doch ich bewegte mich so schwungvoll wie lange nicht mehr. Ich verspürte eine gewisse Vorfreude. Es war eine gute Idee gewesen, meinen Ruhestand zu beenden.
Ich nahm das Jesuskind aus der Krippe und hielt es hoch, um es mit der Zweistärkenbrille genauer zu untersuchen. Das Porzellangesicht war makellos und heiter. Kinder strahlen ja eine solche Reinheit aus. Jedenfalls die Jungen.
Die blauen Augen des Gottessohns erwiderten meinen Blick ohne jeden Tadel. Er wusste, dass ich eine Mission hatte. Ich wusste, dass er sie billigte.
Ich legte das Jesuskind in die Krippe zurück und ging weiter. Kein Weihnachtsbaum, fiel mir auf, doch eine Polizistin war vermutlich zu beschäftigt, um viel Zeit zuhause zu verbringen. Vielleicht lebte ihre Familie in der Nähe. Sie hatte eine hübsche Wohnung, doch sie wirkte nicht heimelig. Es gab ein paar Möbelstücke aus hellbraunem Holz, einen Fernseher und einen Beistelltisch. Kein Nippes, wie meine Momma sich ausgedrückt hätte, und keine persönlichen Habseligkeiten. Mit Ausnahme der Weihnachtskrippe.
Das bedeutete, sie war vermutlich religiös. Das würde sie auch nicht retten.
Ich schritt durch den Flur, fuhr mit den behandschuhten Fingern an der Wand entlang. Keine Familienfotos. Doch ich wusste schon, dass die Frau eine Einzelgängerin war. Ich beobachtete sie seit mehreren Tagen. Um ihre Angewohnheiten kennenzulernen. Um ein Gefühl für sie zu bekommen.
Mein Schultergelenk knackte, als ich zur billigen Deckenleuchte hochlangte und den Schirm löste. Ich musste die LED-Birne nur ein paar Mal drehen, da ging schon das Licht aus. Ohne hinzusehen brachte ich den Plastikschirm wieder an.
Dann wechselte ich ins Schlafzimmer. Hier würde der ganze Spaß stattfinden. Ich konnte es gar nicht erwarten, ihren hübschen dunklen Zopf zu lösen und das Haar auf dem Kissen auszubreiten. Ich wollte wissen, ob es wirklich so weich und glänzend war, wie es aussah. „Wenn es aber für die Frau eine Schande ist, dass sie das Haar abgeschnitten hat oder geschoren ist, soll sie sich bedecken“, betete ich zu dem Foto der Frau auf dem Nachttisch. Dann wandte ich den Blick ab. Religiös oder nicht, sie war eine Sünderin. Genau wie alle anderen.
Und wie alle anderen würde sie dafür Sühne leisten.
Ich ließ die alte Werkzeugtasche aus Baumwolle, die ich geschultert hatte, zu Boden gleiten und setzte mich aufs Bett. Ich prüfte die Matratze, indem ich mehrmals auf und ab federte. Sie war so fest, dass das Kopfende kein Geräusch an der Wand machte. Wie viele Männer hatten das wohl vor mir festgestellt?
Sünder. Ich hatte sie gründlich satt.
Es war eine Weile her, dass ich eine Sünderin getauft hatte. Mein Pimmel war nicht mehr der Alte, doch wenigstens würden die Nachbarn mich nicht hören, wenn ich ihn auf die Probe stellte. „Zerschmettere sie mit meinem Schwert“, murmelte ich, als ich die Birne der Nachttischlampe losschraubte. „Taufe sie mit meinem Wasser.“ Obwohl mir klar war, dass der Herr meine Überlegungen nicht billigen würde, kicherte ich über meinen Scherz, jedoch nur kurz.
Das Scharren eines Schlüssels im Schloss lenkte mich ab. Ich war froh, dass sich meine Augen an die Dunkelheit in der Wohnung gewöhnt hatten, und stellte mich in eine noch dunklere Ecke, als die Tür mit einem leisen Quietschen geöffnet wurde.
Meine Herzfrequenz verdoppelte sich, und zu meiner Bestürzung wurde ich tatsächlich ein wenig nervös. Meine letzte erfolgreiche Mission war lange her, doch die Unsicherheit, die ich verspürte, gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht.
Als ich mich auf einen Stuhl setzte, knarrte das Holz nur leise unter meinem Gewicht.
Berufen zu sein, ist wie Fahrrad fahren, rief ich mir ins Bewusstsein. Man verlernt es nicht.
Die Tasten der Alarmanlage piepten, als die Frau den Code eingab. Ich grinste. Vermutlich hatte sie von ihrem mageren Gehalt einen Mordspreis für das Ding bezahlt. Aber wenn der Einbrecher sechsundzwanzig Jahre lang Alarmanlagentechniker war, können alle Tastaturen, Knöpfe und Kameras der Welt nichts ausrichten.
Ich nahm die Pistole aus der Werkzeugtasche und legte sie auf den Nachttisch. Wenn die Frau an ihrem letzten Tag ihre Routine nicht änderte, würde ich die Pistole nicht brauchen, doch es würde nicht schaden, wenn sie sie sah.
Dann wartete ich darauf, dass sie herüberkam.
Ich spitzte die Ohren und hörte das Rascheln ihrer Jacke und ein Klicken, möglicherweise die Tür der Kammer, in der sie ihre warmen Sachen aufhängte. Sie war ein Gewohnheitsmensch und legte immer erst ihre Arbeitsklamotten an der Tür ab, bevor sie sich im Schlafzimmer etwas Bequemeres anzog.
Heute war es nicht anders.
Ich stellte mir vor, wie sie den Kühlschrank öffnete. Hörte das Klirren von Flaschen. Tief durchatmend, glaubte ich beobachten zu können, dass sie sich vorbeugte und ein Bier aus dem Kühlschrank nahm.
Dafür würde ich sie später bestrafen. Alkohol zu trinken, schickte sich nicht für eine Frau.
Sie trank Miller Lite. Meine Marke. Als ich sie das im Lebensmittelladen kaufen sah, wusste ich, dass sie mein nächstes Opfer werden würde. Es war ein Zeichen. Genau wie das hübsche dunkle Haar, das sie zum Zopf geflochten hatte. Sie war dazu bestimmt, bestraft zu werden, und Gott hatte mich auserwählt. Sonst hätte er nicht dafür gesorgt, dass sie mir über den Weg lief.
Die Kühlschranktür fiel zu. Ich schloss reflexhaft die Augen und atmete lautlos ein. Die Flasche wurde mit einem Zischen geöffnet. Sie nahm einen großen, durstigen Schluck, und legte dabei vermutlich den dunkelhaarigen Kopf in den Nacken. Doch ich sah nicht ihr sonnengebräuntes, ein wenig exotisch wirkendes Gesicht vor mir.
Sondern das von Winter. Das meines Mädels.