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Mary Stone Publishing

A Taste of… Autumns Jagd

Erstes Kapitel

Gina Webster wälzte sich im Bett und boxte gegen das Kissen. Der Schlaf war eine Flucht und lockte sie mit dem Versprechen, alles hinter sich lassen zu können. Ihre Tränen waren getrocknet, doch der Zorn köchelte noch vor sich hin und verhinderte, dass sie die brennenden Augen zubekam.

Aus den kleinen Lautsprechern auf dem Kopfbrett tönte rhythmische Musik. Als Kind hatte sie sich angewöhnt, mit Musik einzuschlafen. Jetzt, mit neunzehn, tröstete Musik sie noch immer und erinnerte sie daran, dass alles schlimmer sein könnte. Normalerweise half sie ihr auch einzuschlafen.

Heute nicht.

Es war ein Horrortag gewesen, und besser wurde es nicht. Ihre Eltern stritten sich. Mal wieder.

Es war ein paar Minuten nach Mitternacht, soeben hatte das neue Jahr begonnen. Sie hätte zusammen mit ihrem Freund in einem Hotel feiern sollen, anstatt sich in ihrem Bett von einer Seite auf die andere zu wälzen. Sie hätte bis zwei Uhr morgens einer Swingband lauschen sollen.

Aber um zehn, als ihre Eltern noch manierlich miteinander umgingen, hatte Kyle ihr eine SMS geschickt: Etwas ist dazwischengekommen, melde mich bald. Und dann hatte der Idiot sein Handy ausgeschaltet, und ihre Anrufe wurden direkt auf die Mailbox umgeleitet, die sie inbrünstig hasste. „Tut mir leid, ich kann im Moment nicht mit dir reden. Ich bereite mich auf die Apokalypse vor. Hinterlasse eine Nachricht.“

Piep.

Jedes Mal, wenn sie den bescheuerten Spruch hörte, hatte sie den Eindruck, er warte wirklich geradezu auf das Ende der Welt. Doch erst als es Mitternacht wurde, gestand sie sich ein, dass Kyle tatsächlich nicht kommen würde. Er hatte sie hängen lassen. An einem der wichtigsten Feiertage des Jahres.

Versetzt zu werden, tat immer weh, doch heute war ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Sie wollte dringend mit ihm reden. Sich von ihm drücken und ihn versprechen lassen, das neue Jahr werde anders laufen. Er hätte ihr gesagt, dass er sie liebe, und alles wäre wieder in Ordnung gewesen.

Außerdem musste sie von hier weg. Ihre Eltern trieben sie in den Wahnsinn, und sie musste dringend Dampf ablassen. Sie brauchte Kyles Nähe und wollte hören, wie er ihre gemeinsame Zukunft ausmalte. An einem anderen Ort, weit weg von diesem Drecksloch.

Ihre Eltern planten, sich scheiden zu lassen. Was für alle Beteiligten gut wäre.

Die Stimme ihrer Mutter drang durch die Wand, und Gina sah ihr verheultes Gesicht vor sich. „Das Sofa kriegst du nicht, Marcus Webster! Ich hab’s gekauft, weil du auf dem alten sternhagelvoll eingepennt bist und es in Brand gesteckt hast!“

„Was?“ So wütend hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. „Du hast das Sofa nicht gekauft! Ich hab’s gekauft, nach deinem Nervenzusammenbruch, weil du das alte vollgekotzt hast!“

Es war traurig, aber auch absurd. Nachdem ihre Familie so viel durchgemacht hatte, war sie jetzt am Ende.

Marcus Webster war drogensüchtig gewesen und hatte Ginas Leben und das ihrer Mutter in mehr als einer Hinsicht ruiniert. Wegen seiner Schulden hatte er das Haus und den Job verloren und wäre beinahe ins Gefängnis gekommen. Gina hatte keine Ahnung, ob er das Sofa tatsächlich in Brand gesteckt hatte, doch sie hatte schon ein paarmal eine kokelnde Zigarette davon entfernt.

Aber es könnte auch so gewesen sein, wie ihr Vater sagte. Seine Drogensucht hatte ihre Mutter dermaßen belastet, dass sie einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte. Gina wusste nicht mehr, was genau passiert war, doch Olivia war halb bewusstlos in die Psychiatrie eingeliefert worden. Sie hatte halluziniert und war dermaßen dehydriert gewesen, dass man ihr mehrere Infusionen Kochsalzlösung verabreichen musste, damit sie wieder pinkeln konnte.

Jetzt, mit neunzehn, fragte sich Gina, ob ihre Mutter vielleicht an Bulimie und leichter Schizophrenie gelitten hatte. Ihre Eltern waren beide nicht ganz gesund gewesen, was sie allerdings nicht laut auszusprechen wagte. Geisteskrankheiten wurden in der Familie weitervererbt … oder nicht?

Und sie musste perfekt funktionieren. Damit ein Mann sie zur Frau wollte, musste sie Tag für Tag auf dem Damm sein. Denn sie müsste den Haushalt schmeißen. Ihn verwöhnen. Sie durfte nicht herumnörgeln, durfte keine Anzeichen von Verzagtheit zeigen.

Diese Lektion hatte Gina nicht daheim gelernt, was der Streit nebenan deutlich machte. Nein, sie hatte sie im reifen Alter von fünfzehn gelernt, als sie wegen der psychischen Probleme ihrer Eltern acht Monate lang bei einer Pflegemutter untergekommen war.

„Und was ist mit der Esszimmergarnitur?“, brüllte ihr Vater und versetzte Gina wieder in die jämmerliche Gegenwart zurück. „Wer hat die zum Sperrmüll gegeben? Lass mich raten. Du willst mir weismachen, nicht du warst das!“

Gina stöhnte und versuchte, die hasserfüllten Worte ihrer Eltern mit dem Kissen zu ersticken. Es klappte nicht.

„Er … war … verdreckt!“

„Der Tisch war vollkommen in Ordnung! Du hättest ihn bloß abwischen müssen!“

Gina wusste, dass es ihnen gar nicht um all diese Dinge ging. Sie stritten darüber, ob sie einander noch liebten. Soweit sie erkennen konnte, versuchten sie sich gegenseitig zu überzeugen, dass sie sich nie geliebt hatten.

„Dann behalt den neuen Tisch, wenn dich das glücklich macht!“

„Es braucht mehr als einen Tisch, um mich glücklich zu machen, du Schlampe!“

Gina wollte, dass es endlich aufhörte.

Sie liebten einander, doch sie waren nicht mehr verliebt. Zumindest hatten sie es so formuliert, als sie erklärt hatten, sie wollten sich scheiden lassen. Gina wusste, dass ihr Vater gern abgewartet hätte, ob sie sich erneut verliebten, doch dazu war ihre Mutter nicht bereit. Sie war mit ihm fertig.

Immerhin hatte Olivia Webster bis zu Ginas Schulabschluss gewartet. Erst dann war sie sicher gewesen, dass sie keine romantischen Gefühle mehr für ihren Mann hegte – dass nichts mehr davon übrig war.

„Wenn du glaubst, ich warte den Rest meines Lebens darauf, dass du rückfällig wirst, hast du dich geschnitten!“

„Ich bin nicht süchtig!“

Olivia lachte schrill. „Den Kids erzählt man was anderes, oder? Einmal süchtig, immer süchtig.“

„Ich bin nicht süchtig, verdammt noch mal!“

Aber er war es gewesen. Ihr Vater hatte sich von der Sucht, den Schulden und aus der Arbeitslosigkeit befreit, doch das Kind war bereits in den Brunnen gefallen. Gina mochte es ihrer Mutter nicht verdenken, dass sie die Scheidung forderte und dass sie sich jetzt, da ihre Tochter auf eigenen Füßen stand, jemanden suchen wollte, den sie lieben und dem sie vertrauen konnte. Auch ihrem Vater warf sie nichts vor. Das aber machte es den beiden nicht leichter, ihre Ehe zu beenden.

„Ach, nein? Ich werd dir dann glauben, wenn ich sechs Monate weg bin. Hast selber gesagt, ich wär der einzige Grund, weshalb du clean bist!“

„Warum verlässt du mich dann?“, rief ihr Vater. „Was willst du ohne mich anfangen? Wieder einen Nervenzusammenbruch bekommen?“

So ging es schon seit Tagen. Seit Wochen. Monaten.

Andererseits war das immer noch besser als die Fürsorge. Gina war acht Monate lang von zu Hause weg gewesen. Das lag gut drei Jahre zurück, doch die Erfahrung hatte sie tief geprägt.

Aus irrationalen Gründen hatte sie noch immer Angst, in eine Pflegefamilie zu kommen, wenn ihre Eltern sich trennten. Dabei war sie mit neunzehn zu alt dafür. Sie arbeitete im Büro und dachte ans Ausziehen. Aber seit ihre Eltern von Scheidung sprachen, träumte sie, sie sei wieder fünfzehn. Manchmal musste sie sich zwingen, aus dem Albtraum aufzuwachen.

Und ausgerechnet heute versetzte Kyle sie. Hatte es einen Notfall gegeben? War ihm etwas passiert?

Er wusste, dass sie aufgewühlt war, weil ihre Eltern sich stritten. Weshalb ließ er sie dann in dem Moment im Stich, da sie dringend von zu Hause und dem Geschrei und den gegenseitigen Vorwürfen wegkommen musste?

Sie hatte geglaubt, er liebe sie. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.

Gina sah auf die Uhr. Es war elf nach eins – 1:11 -, und damit wollte das Universum ihr etwas sagen. Sie interpretierte es so, dass sie jetzt würde einschlafen können, und wälzte sich auf die andere Seite.

Zwischen Matratze und Kopfbrett, verdeckt von einem der beiden Lautsprecher, hatte sie eine Flasche billigen Wodka versteckt. In letzter Zeit hatte Gina für Nächte wie diese immer eine in Reserve. Sie schraubte den Verschluss ab und nahm einen großen Schluck. Sie kniff die Augen zusammen. Als der gar nicht so toll schmeckende Alkohol ihre Kehle hinunterrann, schüttelte sie sich.

Sie trank nicht gerne. Es erinnerte sie an die Sucht ihres Dads, doch ganz ohne kam sie nicht zurecht. Um die Augen vor den bitteren, verworrenen Tränen zu verschließen, nahm sie noch einen großen Schluck, dann schraubte sie die Kappe wieder auf.

Sie musste hier raus. Alles wäre besser als das hier.

Sie mummelte sich ein und begrub ihren Kopf unter einem zusätzlichen Kissen, bis sie sich fühlte wie in einem sicheren Kokon. Sie schob die Hand unters T-Shirt und legte sie um das Medaillon mit dem Bild, das sie und ihre Eltern in besseren Zeiten zeigte. Sich darauf zu konzentrieren, hatte ihr schon häufiger geholfen, die Gegenwart zu ertragen.

Zum Glück wurden ihre Eltern allmählich müde. Jetzt sagten sie Sachen wie: „Wenn es dir leid tut, tut es mir leid!“ und „Das ändert jetzt auch nichts mehr!“ Die Lautstärke hatte nachgelassen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit dämmerte sie endlich weg.

Ein Knall weckte sie aus dem Halbschlaf. Es hatte sich angehört, als wäre ein Küchenstuhl umgefallen.

Na großartig. Anscheinend stritten sich ihre Eltern noch immer.

Inzwischen war es 2:22. Sie hatte also ein wenig Ruhe gefunden. Einen Moment lang fragte sie sich, ob die drei Zweien etwas bedeuteten. Sie musste das mal googeln …

Eine Tür wurde so fest zugeschlagen, dass beinahe die Wände gewackelt hätten. Diesmal in der oberen Etage.

„Nein!“ Die Stimme ihrer Mutter klang leicht gedämpft, aber auch schrill und angstvoll. „Tu das nicht. Bitte nicht!“

„Nein!“, brüllte ihr Vater. Seine Stimme dröhnte durchs ganze Haus.

Gina setzte sich im Bett auf und atmete mehrmals tief durch, um ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Hatte ihr Vater schlapp gemacht? War er rückfällig geworden?

Ihren Eltern beim Streiten zuzuhören, war eine Sache, doch wenn ihr Vater wieder mit dem Saufen anfing, stand das auf einem anderen Blatt.

Gina schleuderte das Kissen an die Wand und schwenkte die Beine aus dem Bett. Leise zog sie ihre Jeans an, schlüpfte in die schäbigen Sneakers und schulterte die Handtasche. Sie schnappte sich das Handy vom Nachttisch und ärgerte sich, weil der Akku leer war. Sie hatte sich so sehr über Kyle und das vermasselte Silvester geärgert, dass sie vergessen hatte, es einzustöpseln.

Sie steckte das Ladegerät ein und vergewisserte sich, dass die ‚eiserne Reserve’, die ihre Mutter ihr für das Date zugesteckt hatte, noch in der Geldbörse war. Ganze vierzig Dollar. Sie tastete nach dem Wagenschlüssel. Sie fuhr bloß einen ramponierten Honda, aber wenn ihr Vater rückfällig wurde, war ihre Mom bestimmt nicht in der Verfassung, selbst zu fahren.

„Du musst das nicht tun!“, flehte ihre Mom angsterfüllt. „Ach Gott, leg das weg. Bitte.“

„Olivia!“, rief ihr Vater gequält. „Olivia! Bitte nicht!“

Ginas Herzklopfen verstärkte sich bei seinem angespannten Tonfall. Was meinte er damit? Flehte er ihre Mutter an zu bleiben?

Gina wagte kaum zu atmen. Auf Zehenspitzen schlich sie in den Flur und wich den knarrenden Dielen nach Möglichkeit aus. Die Schlafzimmertür ihrer Eltern war geschlossen. Gina öffnete sie leise und drückte dagegen, damit es nicht schleifte, als sie den Knauf drehte, so wie Eltern es tun, wenn ihre Kinder sich nachts streiten.

Beim ersten Blick durch den Türspalt schlug sie die Hand vor den Mund.

Vielleicht schlief sie ja noch immer, und das alles war ein Traum. Ein Albtraum.

Ihr Vater kniete auf dem Boden vor dem Eisenbett, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Ihre Mutter saß auf dem Bett und war an den Rahmen gefesselt. Ihr Gesicht konnte Gina nur zur Hälfte sehen. Das eine Auge war vor Entsetzen geweitet.

Niemand schien sie bemerkt zu haben.

„Bitte!“, bettelte ihr Vater, den Blick auf jemanden gerichtet, den Gina noch nicht wahrnahm. „Tu das nicht. Das bist nicht du.“

„Du hättest dich mehr anstrengen sollen!“, schrie ein Mann, der nicht zu sehen war.

Gina wich zurück, als ein Arm in ihrem Blickfeld auftauchte. Den Rest der Person konnte sie nicht erkennen, und sie beobachtete entsetzt, wie der Arm die Luft durchteilte. Hatte der Mann ihre Mutter geschlagen?

Als er den Arm zurückzog, war alles noch schlimmer: Blut spritzte aus dem Hals ihrer Mutter und tropfte von der sich entfernenden Klinge.

Ihr Vater schrie. Gina ebenfalls.

„Scheiße!“, fluchte der Mann.

Während die Zeit sich dehnte, beobachtete Gina, wie das Blut aus dem Körper ihrer Mutter strömte. Es schoss unglaublich schnell hervor, so wie sie es aus Filmen kannte.

Ginas Mutter rang nach Luft und röchelte grauenvoll.

Obwohl Gina die Ohren dröhnten, hörte sie das Knarren der Dielen. Der Mann näherte sich ihr. Sie musste Hilfe holen. Etwas tun, irgendetwas, bevor es zu spät war.

Gina fuhr herum und lief zurück zu ihrem Zimmer. Sie schlug die Tür zu und sperrte ab, wohl wissend, dass diese Tür den Angreifer nicht lange aufhalten würde. Sie fischte Handy und Ladegerät aus der Handtasche. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie das Kabel kaum einstöpseln konnte.

„Na los, mach schon“, schluchzte sie.

Sie schaltete das Handy ein. Das Display wurde hell, doch es zeigte nur das Symbol des leeren Akkus mit einem schmalen roten Strich an der Unterseite an. Als sie wählte, schaltete sich das Handy gleich wieder ab.

Gina fluchte und fuhr herum, weil am Türknauf gerüttelt wurde. Dann rammte der Mann die Schulter gegen die Tür, und sie schrie auf.

Bämm.

Die Tür hielt. Doch das Haus, das ihr Vater gemietet hatte, um einen Neuanfang zu machen, war alt. Die Tür würde nicht lange standhalten.

Das Fenster war jetzt ihre einzige Chance.

Bämm.

Seit der Rückkehr zu ihrer Familie war sie nicht mehr hinausgeklettert. Dafür hatte es keinen Grund gegeben.

Sie hechtete übers Bett und riss das brusthohe Fenster auf. Sie drückte gegen den Rahmen des Fliegengitters und betastete den Rand, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wie man es löste. Es war anders befestigt als die Fliegengitter in ihrem alten Zuhause.

Bämm.

Diesmal knackte es, und da wusste sie, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte.

Mit dem Autoschlüssel kratzte sie am Gitter und schluchzte auf vor Erleichterung, als es mitten entzweiriss. Sie zog die beiden Hälften auseinander und streckte den Kopf nach draußen. Es war kalt und nieselte, doch das war ihr egal.

Krack.

Gina schwang ein Bein über die Fensterbank. Als die Tür aufsprang, stieß sie mit dem Kopf so fest gegen den Fensterrahmen, dass sie Sterne sah.

Sie musste schnell machen.

Sie warf ihre Sachen nach draußen und hatte es fast geschafft, aber die Jeans blieb irgendwo hängen. Sie ruckte mit dem Bein, hörte, wie der Jeansstoff zerriss. Als der Nagel sich in ihr Bein bohrte, schrie sie auf.

Doch sie ließ nicht locker.

Schnell, schnell, schnell!, schrie es in ihr.

Ein Schatten näherte sich. Nein, es war ein Gespenst. Der Mondschein fiel auf die weiße Gestalt.

Sie geriet in Panik. Sie hatte keine Zeit mehr, sich auf den Boden hinabzulassen. Sie musste springen. Alles war besser als das, was das Monster im Schilde führte.

Hoffentlich würde sie sich nicht schwer verletzen. Sie musste nur auf den Füßen aufkommen und sich abrollen, wie sie es beim Volleyball gelernt hatte.

In dem Moment, als sie fiel, krallten sich grobe Finger in ihr Bein. Gina schrie auf und versuchte sich loszumachen. Sie hatten Nachbarn, doch es war schon spät – und es war Neujahr. Sie hatte keine Ahnung, ob jemand sie hörte.

Sie wand sich und trat mit aller Kraft aus, doch sie war im Nachteil. Sie nahm eine gekrümmte Haltung ein, und ihre Kräfte ließen nach. Der Angreifer packte sie beim Arm und riss sie zurück, wobei sie mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen prallte.

Diesmal verspürte sie einen sengenden Schmerz, und ihr Gesichtsfeld verengte sich.

„Hilfe! Hilfe!“

Sie schrie in einem fort, in der Hoffnung, dass irgendjemand sie hören würde. Als der Mann sie vom Fenster fortriss und aufs Bett warf, geriet er zum ersten Mal in ihren Blick. Viel sah sie nicht, doch das Wenige war furchterregend.

Er trug eine Skimaske und einen weißen Schutzanzug, der mit dem Blut ihrer Mutter bespritzt war.

Beflügelt vom Adrenalin, federte Gina vom Bett ab und vollführte eine Schulterrolle, auf die ihr Highschool-Coach stolz gewesen wäre. Als sie mit den Füßen auf dem Boden aufkam, taumelte sie durch die offene Tür. Sie musste nach unten und durch die Vordertür nach draußen laufen. Das hätte sie gleich machen sollen, als sie ihre Mutter gesehen hatte.

Weil sie in Panik geraten war, würde sie vermutlich sterben.

Entschlossen, ihren Fehler wiedergutzumachen, rannte sie zur Treppe. Sie warf einen Blick über die Schulter – ihr zweiter Fehler – und rutschte auf dem feuchten Boden aus. Diesmal rollte sie sich nicht richtig ab und verrenkte sich das Handgelenk, als sie den Kopf vor dem Aufprall an der Wand schützen wollte.

Sie schrie.

Ihr Vater lag in einer Blutlache mit dem Oberkörper im Flur, sein bleiches Gesicht leuchtete im Halbdunkel.

„Daddy?“

Sie kroch auf ihn zu, dann hielt sie inne. Irgendetwas stimmte nicht mit seinen Augen. Sie waren stumpf und leer. Sie bewegten sich nicht. Auf einmal wusste sie, dass sie einen Toten vor sich hatte. Egal, was für ein Mensch er gewesen war, jetzt war sein Leben vorbei.

„Daddy. Oh nein. Nein, Da…“

Sie wurde von hinten gepackt, und so mühelos, als wäre sie ein Kind, legte der Angreifer sie sich über die Schulter. Dann polterte er mit ihr die Treppe hinunter. Als er sich herumdrehte, stieß sie mit dem Kopf an den Türrahmen, und wieder sah sie Sterne. Entweder würde sie sich übergeben oder ohnmächtig werden, vielleicht auch beides.

Anstatt zur Haustür zu laufen, eilte er in die Küche. Benommen registrierte sie, dass ein Stuhl umgekippt war. Mama wird wütend werden.

Mama.

Daddy.

Es hatte so kommen müssen. Als ihre Eltern beschlossen, sich scheiden zu lassen, war absehbar gewesen, dass etwas Schreckliches passieren würde. Es war wie ein wahrgewordener Albtraum.

Ja, das musste ein Albtraum sein. Sie brauchte bloß aufzuwachen.

Der Angreifer schleppte sie hinaus, zu einem SUV, doch es war so dunkel, dass sie weder Farbe noch Modell erkennen konnte. Er öffnete die Heckklappe und ließ sie fallen. Sie plumpste auf den Teppichbelag. Ihr drehte sich der Magen um.

Sie wälzte sich zur Seite und übergab sich. Der Angreifer wich fluchend zurück. Als sie fertig war, nahm er etwas aus dem SUV. Einen Strick.

Sie wehrte sich, war aber so benommen und durcheinander, dass sie das Gefühl hatte, in einem Whirlpool voller Schlamm zu schwimmen. Sie weinte vor lauter Frust. Sie konnte nicht richtig reagieren. Der Angreifer war stärker und schien jede Bewegung vorauszuahnen.

„Bitte nicht, bitte nicht“, bettelte sie mit vom Schreien wunder Kehle. „Ist meine Mom okay? Wo ist meine Mom?“

Was passiert war, erschien ihr konfus und unwirklich. Bitte, lieber Gott. Mach, dass das nicht wahr ist.

Der Mann stopfte ihr ein übelriechendes Tuch in den Mund und wickelte ihr einen Strick um den Kopf. Mit der Zunge versuchte sie es rauszudrücken, doch sie schaffte es nicht. Er fesselte ihr die Beine und die Arme hinter dem Rücken, und schon konnte sie sich nicht mehr rühren. Er drückte sie nieder und wollte gerade die Heckklappe schließen, als ein Scheinwerferpaar über sie hinwegschwenkte.

Ohne zu zögern begann Gina um sich zu treten und zu schreien, obwohl sie von Strick und Knebel behindert wurde. Sie wollte nicht aufgeben. Sie wand sich, wälzte sich herum und wehrte sich gegen die Hände, die sie niederdrückten.

Bitte schau her. Bitte schau her.

Als das andere Fahrzeug immer näher kam, fluchte der Angreifer, holte aus und schmetterte ihr die Faust an den Kopf. Sengender Schmerz flammte auf und dann … nichts mehr.

Zweites Kapitel

Im privaten Besuchszimmer des Mosby Detention Centre in Richmond, Virginia, gab es einen Stuhl, der an eine Schulbank erinnerte und fest mit einem Tisch verbunden war. Man konnte Gefangene mit Händen und Füßen daran fesseln, was ihnen eine gewisse Bewegungsfreiheit ermöglichte, aber gleichzeitig verhinderte, dass sie ihren Besucher angriffen.

Dr. Autumn Trent mochte den Stuhl nicht. Aufgrund ihrer Arbeit wusste sie zwar, dass viele Insassen gewalttätige Neigungen hatten, doch es gab bestimmt andere Möglichkeiten, damit umzugehen.

Der Stuhl wirkte jedenfalls nicht sonderlich therapeutisch. Wenn sie bis zum Abschluss des Verfahrens in diesem Raum mit dem des Serienmordes beschuldigten Justin Black arbeiten sollte, würde sie um einen anderen Besuchsraum bitten müssen. Da es bis zur Gerichtsverhandlung noch ein bis zwei Jahre dauern konnte, brauchten sie etwas Besseres. Falls sich das einrichten ließ.

Autumn arbeitete für Shadley und Latham, eine psychologische Full-Service-Beratung, die auf Bedrohungsanalyse, Insiderbedrohungen, Terrorabwehr, investigative Ermittlungen und Einsatztraining spezialisiert war. Ihre Firma deckte alles Mögliche ab, angefangen von Stalking in der Schule bis zu Gewalt am Arbeitsplatz.

Sie fertigten Täterprofile für unterschiedliche Ermittlungen an, auch für ungeklärte Kriminalfälle. Sie identifizierten Mitarbeiter, die anfällig waren für Bestechung und Betriebsspionage. Auf Anfrage analysierten sie für das FBI auch Techniken der Radikalisierung.

Sie liebte ihre Arbeit.

Autumn hatte sich schon immer für das Strafrecht interessiert. In ihrem ersten Jahr auf dem College war das sogar ihr Hauptfach gewesen. Damals hatte sie noch nicht gewusst, welchen Beruf sie anstreben sollte. Klar war ihr nur, dass sie es nicht ausstehen konnte, wenn die Bösen den Guten zusetzten.

Durch einen Ladenüberfall, bei dem sie als Geisel genommen wurde, fand sie heraus, dass die Grenze zwischen Gut und Böse nicht so scharf gezogen war, wie sie geglaubt hatte. Manche Leute auf der falschen Seite des Gesetzes waren nicht durch und durch schlecht. Es gab Zwischentöne, die nicht immer leicht zu erkennen waren.

Der Vorfall hatte dazu geführt, dass sie ihr Hauptfach wechselte, und jetzt, acht Jahre später, hatte sie in Jura und forensischer Psychologie promoviert, mit Strafrecht als Nebenfach. Ihre Bachelor- und ihre Magisterarbeit hatten sich mit Kriminalpsychologie befasst, und sie fand es gut, dass sie sich in beiden Bereichen auskannte. Das verschaffte ihr einen beruflichen Vorteil und machte sie schon jetzt zu einer gefragten Expertin.

Kriminalpsychologen beschäftigten sich überwiegend mit der Bestimmung des Tatmotivs und dem Erstellen eines Täterprofils. Forensische Psychologen wurden nach einem Verbrechen tätig. Sie begutachteten den Geisteszustand des Tatverdächtigen und standen Opfern und deren Familie zur Seite.

Autumn wollte sich nicht festlegen. Sie wollte sämtliche Facetten kennenlernen und hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, um beide Doktortitel zu bekommen.

Ihr Fachwissen hatte ihr einen tollen Job eingebracht. Die Bezahlung überstieg selbst ihre Träume. Sogar das FBI hatte sie zu einigen Fällen hinzugezogen, und nach Abschluss der intensiven Ermittlungen war sie versucht gewesen, zur Behörde zu wechseln.

Aber … das Geld gab den Ausschlag, und als sie die Stelle bei der renommierten Firma Shadley und Latham angetreten hatte, konnte sie mit ihrem äußerst großzügigen Gehalt ihr hohes Studentendarlehen zurückzahlen. Außerdem hatte sie jetzt die Möglichkeit, sich grundlegendere Gedanken über kriminelles Verhalten zu machen. Weshalb begingen Kriminelle Straftaten? Gab es eine Möglichkeit, sie zu verhindern?

Und vor allem … welchen Beitrag konnte sie selbst leisten?

Unter anderem war Autumn auf Bedrohungsanalyse spezialisiert. Sie ging in Schulen und Firmen und fand heraus, ob jemand eine Bedrohung darstellte, wie man der Gefahr begegnen sollte und was bei einem Notfall zu tun war. Darin bestand der Großteil ihrer Arbeit bei Shadley und Latham.

Zur Zeit machte sie etwas anderes. Sie befand sich in einer Haftanstalt und wollte mit Justin Black sprechen, der zufällig der Bruder von FBI Special Agent Winter Black war, ihrer besten Freundin.

Winter – und das FBI – hatten Autumn gebeten, Justin einzuschätzen. Interessanterweise hatte Justins Verteidiger ihre Bestellung zur Gutachterin abgesegnet. Glaubte er, sie werde Nachsicht üben, weil sie mit Justins Schwester befreundet war? Autumn stand von mehreren Seiten her unter Druck, doch sie war entschlossen, sich in ihrem Urteil nicht davon beeinflussen zu lassen.

Zum Glück hing die Entscheidung, ob Justin zurechnungs- und verhandlungsfähig war, nicht allein von ihr ab. Außerdem beabsichtigte sie, ihre Erkenntnisse für die Forschung zu nutzen. Es gab nicht viele Serienkiller, die bereit waren, sich an Forschungsprojekten zu beteiligen, und dass Justin eingewilligt hatte, mit ihr zu sprechen, war ein gutes Zeichen.

Justin war als kleiner Junge von einem Serienkiller mit dem Spitznamen Preacher entführt worden, der später als Douglas Kilroy identifiziert wurde. Erst hatte er die Eltern von Winter und Justin getötet und Winter zu ermorden versucht, dann hatte er den sechsjährigen Justin entführt und ihn dazu erzogen, seine Mission fortzuführen: Frauen zu bestrafen, die sich anmaßten, ihre von Gott gesetzten Grenzen zu überschreiten.

Erst kürzlich war ans Licht gekommen, dass Justin biologisch mit Kilroy verwandt war. Der Preacher hatte die Blacks nicht zufällig ausgesucht, sondern in voller Absicht ermordet.

Populärpsychologisch ausgedrückt, war Justin durch Veranlagung und Umwelt zum Serienkiller bestimmt worden. Gegenwärtig wussten sie noch nicht, wie viele Menschen er ermordet hatte. Das FBI war durch seine Beteiligung an einem Massaker in einer Mall auf ihn aufmerksam geworden, anschließend hatten seine Schwester und mehrere Special Agents ihn festgenommen.

Jetzt, da er keine Gefahr mehr für die Gesellschaft darstellte, war es Autumns Aufgabe, herauszufinden, ob Justins ‚Bestimmung’ sich ändern ließ. Sie hatte da ihre Zweifel, war aber nicht der Typ, der die Flinte vorschnell ins Korn warf. Und für ihre beste Freundin würde sie ihr Bestes geben.

Autumn wusste, wie es sich anfühlte, eine nahestehende Person zu verlieren. Bereits als Kind hatte sie ihre Schwester Sarah verloren. Das ließ sich zwar nicht mit Winters Erfahrung vergleichen, doch Verlust war Verlust. Nicht zu wissen, ob der Betreffende tot war oder noch lebte, stellte eine große Belastung war.

Autumn hatte keine Ahnung, wo Sarah war, doch Justin befand sich in diesem Gebäude. Auf ihn würde sie sich konzentrieren – vorerst jedenfalls. Irgendwann würde sie sich mit ihrer verschwundenen Schwester befassen.

Der Besucherstuhl war nicht am Boden fixiert, doch der Wachmann hatte sie gebeten, ihn nicht zu verschieben, sonst müsse er die Unterhaltung beenden.

„Ich werd ihn nicht verrücken“, sagte sie zu dem Mann mit Igelschnitt und blickte ihn vom Stuhl aus an. „Können Sie mir sagen, wie Justin sich in seiner Zelle verhält?“

Der Wachmann schaute grimmig drein. „Kommt drauf an. Manchmal liegt er zusammengerollt auf der Pritsche, die Hände auf den Ohren. Dann wieder wirft er sich gegen die Gitterstäbe. Am nächsten Tag lutscht er am Daumen und führt Selbstgespräche.“

„Wie ist sein Schlaf?“

„Der schläft nicht“, meinte der Wachmann höhnisch. „Jedenfalls nicht viel. Hat Nachtängste, schlafwandelt, was auch immer.“

Das klang besorgniserregend, doch bevor Autumn nachhaken konnte, summte die Tür des Therapieraums, und zwei Wärter führten Justin herein.

Er hatte rabenschwarzes Haar, blaue Augen und einen blassen Teint. Während seine Schwester Winter hübsch und feminin war, wirkte Justin wie das leibhaftige Böse.

Autumn vergegenwärtigte sich, dass der äußere Anschein bisweilen trog.

Die Wärter fixierten Justins Hände mit einer dicken Stahlklammer unter der Tischplatte und verbanden die Fußfesseln mit einer Sperrstange. Dann gingen sie hinaus. Sie würden nicht hören, was gesprochen wurde, konnten den Raum durch eine dicke Plexiglasscheibe aber überblicken.

„Hallo, Miss Trent.“ Justin schluckte nervös, sein Blick huschte umher. „Sie sehen gut aus.“ Er schaukelte vor und zurück, soweit die Fesseln es ihm erlaubten.

Autumn trug einen olivgrünen Blazer und eine schlichte cremefarbene Bluse. Sie hatte am Morgen darauf geachtet, dass ihre Kleidung zurückhaltend wirkte, aber auch nicht übertrieben professionell. „Danke, und nennen Sie mich bitte Dr. Trent. Wie geht es Ihnen heute, Mr. Black?“

Sie gebrauchte den Namen mit Absicht, denn sie wollte sehen, wie er reagierte, wenn man ihn nicht Jaime Peterson nannte wie sein Entführer.

Er versteifte sich kurz, dann lächelte er nervös. „Nennen Sie mich … Jaime … nein, Justin.“ Er klang angespannt und schaukelte noch heftiger mit dem Oberkörper. „Sie sind wegen meiner Schwester hier, nicht wahr?“

„Ich spreche mit Ihnen im Auftrag Ihres Anwalts und des Staatsanwalts.“

„Was zum …?“ Seine Nasenflügel blähten sich, und seine Augen funkelten zornig. Doch er fasste sich gleich wieder, sah auf seine Hände nieder, entspannte die Schultern und atmete aus, ohne dass er mit dem Schaukeln aufhörte. „Ich meine … warum? Das ist sinnlos. Ich werde niemals rauskommen. Das ist ein schrecklicher Ort.“ Er ließ den Blick durch den Therapieraum schweifen. „Wäre ich nicht schon verrückt gewesen, als ich herkam, würde ich hier den Verstand verlieren.“

Autumn griff das Wort auf. „Warum nennen Sie sich selbst verrückt?“

„Ich bin nicht verrückt.“ Sein Lachen und der Blick, den er ihr zuwarf, ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. Der Mann war hochgefährlich, und wäre er nicht an den Sitz gefesselt gewesen, hätte sie sich bedroht gefühlt. Das Lachen brach so unvermittelt ab, wie es eingesetzt hatte, doch er durchbohrte sie weiter mit seinen blauen Augen. Er nahm das Schaukeln wieder auf. „Ich gelte als unzurechnungsfähig, oder?“

Sie hob das Kinn. „Das wurde noch nicht entschieden.“

„Und Sie sollen darüber entscheiden?“

„Unter anderem.“

Er schnaubte. „Soll ich sabbern und den Kopf gegen die Wand rammen? Machen das nicht Verrückte?“

„Unzurechnungsfähigkeit hat unterschiedliche Erscheinungsformen, und ich glaube, ich sollte Sie darauf hinweisen, dass sie in diesem Zusammenhang kein medizinischer, sondern ein juristischer Begriff ist. Ich persönlich würde einen Patienten niemals als unzurechnungsfähig bezeichnen. Im juristischen Sinn schützt der Begriff moralisch schuldlose Menschen vor der Verurteilung für ein Verhalten, das aufgrund einer psychischen Störung außerhalb ihrer Verantwortlichkeit lag.“

Justin runzelte die Stirn und überlegte angestrengt. „Mein Anwalt hat was von wegen NASU erwähnt.“

Autumn lächelte. „Sie meinen NSAU, nicht schuldfähig aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit. Aber noch einmal: Unzurechnungsfähigkeit ist ein juristischer Begriff, kein medizinischer.“

„Und Sie entscheiden heute darüber, ob ich’s bin oder nicht?“ Er wirkte verängstigt, doch Autumn konnte nicht erkennen, ob es der Wahrheit entsprach oder ob er ihr etwas vorspielte.

Das würde später kommen, wenn es um die Frage ging: Simulierte Justin? Täuschte er in bestimmter Absicht nicht vorhandene oder übertriebene körperliche oder psychische Symptome vor? Menschen taten das, um dem Militärdienst zu entgehen oder um sich krankschreiben zu lassen. Oder um nicht ins Gefängnis zu müssen.

„Zuerst werde ich feststellen, ob Sie in der Lage sind, eine Gerichtsverhandlung durchzustehen.“

„Und das spielt eine Rolle?“ Das Geschaukel hielt an. Er versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, und wurde gereizt, als er merkte, dass die Fesseln ihn daran hinderten.

Autumn nickte. „Für mich schon.“

„Warum?“

„Weil ich an Fairness glaube. Ich glaube, man sollte jemanden, der aus Gründen, auf die er keinen Einfluss hatte, ein Verbrechen begangen hat, nicht bestrafen.“

Das Schaukeln verlangsamte sich, und er entspannte sich leicht. „Okay.“

Autumn hatte sich vor dem Gespräch einige Fragen zurechtgelegt. Heute wollte sie nicht über seine Zurechnungsfähigkeit entscheiden. Um zu einem abschließenden Urteil zu gelangen, würden mehrere Sitzungen unter Verwendung evidenzbasierter Testverfahren erforderlich sein.

Leicht würde es nicht werden. Sie musste herausfinden, wie es um Justins Kommunikationsfähigkeit bestellt war. Wie viel er mitbekam. Könnte er seinen Anwalt bei der Verteidigung unterstützen? Wie gut erinnerte er sich? Wie würde er sich vor Gericht verhalten? Um das zu klären, bedurfte es einer mit dem Fall vertrauten Forensikexpertin, die sich ausreichend Zeit nahm. Außerdem musste sie bei Bedarf weitere professionelle Meinungen einholen.

Der Grad seiner Zurechnungsfähigkeit konnte sich zudem von einem Moment zum anderen ändern. Schließlich kam es häufiger vor, dass geistig gesunde Menschen plötzlich ausrasteten und ein ungewöhnliches Verhalten zeigten.

Es würde ein längerer Prozess werden, und sie wollte endlich anfangen. „Justin, ist Ihnen klar, weshalb man Sie festgenommen hat?“

Er versuchte sich wieder die Ohren zuzuhalten, dann verschränkte er die Hände. Das Schaukeln wurde heftiger, seine Augen weiteten sich. Er hatte Angst. „Man sagt, ich habe Menschen ermordet und schlimme Dinge getan.“

Sie notierte sich seine Antwort. „Man hat das gesagt? Was sagen Sie selbst dazu?“

Das Geschaukel intensivierte sich. Wäre der Stuhl nicht am Boden fixiert gewesen, wäre er umgekippt. „Ich habe meine Anweisungen befolgt. Ich habe nur versucht, das Richtige zu tun.“

„Wessen Anweisungen, Justin?“

Grauen lag in seinem Blick. „Grandpa“, flüsterte er. „Er hat gesagt, ich soll … ich soll … er hat gesagt, es ist meine Mission, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er hat gesagt, ich würde bestraft werden, richtig schwer bestraft werden, wenn ich ihn enttäusche. Wenn ich Gott enttäusche.“

„Dann haben Sie also Menschen getötet, weil Douglas Kilroy es Ihnen aufgetragen hat?“

„Ja. Er hat mich gelehrt, Frauen zu hassen und zu fürchten, und in mir den starken Wunsch geweckt, sie für ihre Sünden vor dem Herrn zu bestrafen.“

Autumn verspürte den Impuls, ihn zu unterbrechen. Sie hatte seine Erklärung gelesen, und das hier war eine nahezu wortwörtliche Wiedergabe. Doch sie ließ ihn gewähren und musterte ihn aufmerksam. Zeigte sich hinter der arroganten Fassade etwa … Angst? Hatte er Angst, sich eine Blöße zu geben? Und Angst vor Strafe? Oder war das eine Reaktion darauf, dass er sich an Kilroy erinnerte?

„Wie bestrafen?“

Justin beugte sich vor, bis er sich an der Nase kratzen konnte, dann nahm er das Schaukeln wieder auf, etwas langsamer als zuvor. „Die Strafe für Sünde ist der Tod!“, schrie er. Das kam so unvermittelt, dass Autumn leicht zusammenzuckte. Einer der beiden Wärter vor dem Fenster spannte sich an.

Sie hob beschwichtigend die Hand, dann konzentrierte sie sich wieder auf den schaukelnden jungen Mann. „Für alle Sünden?“, fragte sie, nachdem sie tief durchgeatmet hatte. „Was ist mit Mord? ‚Du sollst nicht töten.’ Wie denken Sie darüber?“

Er hielt inne und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Es gibt Abstufungen der Sünde und Abstufungen der Strafe. Ich habe Heiligkeit erlangt, weil ich getan habe, was viele andere unterlassen haben.“

Das war neu.

„Wer hat Sie darauf gebracht, dass Sie heilig wären?“

„Grandpa.“

„Douglas Kilroy hat Ihnen gesagt, Sie würden heilig werden, wenn Sie diejenigen, die gesündigt haben, töten?“

Neuerliches Schaukeln.

„Ja.“

„Hat Douglas Kilroy Ihnen gesagt, was passieren würde, wenn Sie wegen Tötung der Sünder gefasst würden?“

Seine Nasenflügel blähten sich, doch das Geschaukel ging weiter. „Er hat gesagt, die Menschen würden die Bösen belohnen und die Guten verfolgen.“

„Glauben Sie das auch?“

„Ja.“ Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, brannte darin Hass. „Haben Sie all die Schlampen im Fernsehen gesehen? Sie stellen ihren Körper zur Schau. Schlafen mit Männern und bekommen uneheliche Kinder. Sie tun schreckliche Dinge, und was kriegen sie dafür? Sie werden berühmt und reich!“

„Und deshalb müssen sie sterben?“

„Ja!“ Der Schrei hallte ihr in den Ohren wider. „Alle! Sie müssen die natürliche Ordnung der Dinge befolgen. Die elementaren Gesetze. Sie müssen ihrem Mann gehorchen und sich um ihre Kinder kümmern. Meine Mutter war eine Schlampe. Sie schlief außerehelich mit einem Mann und hat eine weitere Sünderin geworfen … meine Schwester. Meine Halbschwester.“

Autumn versteifte sich, als sie daran dachte, dass Justin Winter um ein Haar getötet hätte. „Sie haben versucht, auch sie zu töten.“

„Sie ist eine Hure. Sie hat in wilder Ehe gelebt.“ Er lachte höhnisch. „Das liegt in der Familie.“

„Sie gehören selbst zur Familie“, rief sie ihm in Erinnerung.

„Nicht ganz“, korrigierte er sie rasch. „Nur zur Hälfte.“

Sie waren abgeschweift. „Ihnen ist aber schon klar, dass Sie gegen das Gesetz verstoßen haben …“

„Gegen das Gesetz der Menschen.“

„… und dass Sie für Ihre Verbrechen bestraft werden müssen?“

„Verbrechen aus Menschensicht.“

Sie überging seinen höhnischen Tonfall. „Sie leben in den Vereinigten Staaten von Amerika, und als Gegenleistung für dieses Privileg müssen Sie die Verfassung anerkennen …“

„Ich befolge Anweisungen.“

„Du sollst nicht töten“, entfuhr es ihr.

Er durchbohrte sie mit seinem Blick.

Autumn atmete langsam aus. „Justin, ganz egal, was Sie glauben, Sie haben mehrere Verbrechen begangen, und das hat Folgen. Sie sind amerikanischer Bürger, und ein Richter und eine aus Ihren Mitbürgern zusammengesetzte Jury werden darüber entscheiden, ob Sie dieser Verbrechen schuldig sind. Haben Sie dazu Fragen?“

Er schwieg trotzig. Schaukelte vor und zurück. Vor und zurück. „Ich habe keine Mitbürger, darum können die auch nicht über mich urteilen.“

Autumn seufzte innerlich. Sie bewegten sich im Kreis. Dieser junge Mann war clever. Wenn er sie überzeugen sollte, dass er nicht verhandlungsfähig war, bliebe ihr nichts anderes übrig, als seine einstweilige Einweisung in die Psychiatrie zu empfehlen.

„Justin … ist Ihnen klar, dass Sie vor Gericht kommen, ganz gleich, ob es Ihnen gefällt oder nicht? Auch dann, wenn Sie es für ungerechtfertigt halten? Wir werden über Ihre Zurechnungsfähigkeit entscheiden, aber selbst dann, wenn ich meinen sollte, dass Sie nicht verhandlungsfähig sind, hieße das nicht, dass Sie freikommen. Dann wird man Sie in die Psychiatrie einweisen und so lange behandeln, bis Sie zu einem Verfahren imstande sind. Das mag einen Moment, ein Jahr oder auch zehn Jahre dauern.“

Justins Augen weiteten sich leicht. War ihm das neu?

„Selbst wenn es fünfzig Jahre dauern sollte“, fuhr Autumn fort, „könnte man Sie noch im reifen Alter von neunundsechzig vor Gericht stellen.“

Er lachte, dann versuchte er, sich die Hand vor den Mund zu schlagen.

Sie kniff die Augen zusammen. „Was ist daran so komisch?“

Er lachte erneut, doch diesmal klang es eher wie ein Kichern. „Sie haben ‚neunundsechzig’ gesagt.“

Sie musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Sie durfte nicht vergessen, dass Justin gerade mal neunzehn war. Ein Junge. Und sie wusste noch immer nicht, welche psychischen oder körperlichen Qualen er in den vergangenen dreizehn Jahren durchgemacht hatte.

Autumn fragte sich, ob hier ein männlicher Psychologe eher angebracht wäre, da Justin offenbar glaubte, Frauen gehörten in die Küche. Aber … nein. Eine Frau als Gegenüber hatte auch Katalysatorfunktion. Vielleicht konnte sie ihn sogar dazu bewegen, sein wahres Gesicht zu zeigen.

Wenn seine Verhandlungsfähigkeit bescheinigt und das Gerichtsverfahren auf den Weg gebracht wäre, würden seine Anwälte es darauf anlegen, ihn für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Dann würde es Autumns Aufgabe sein, ein Gutachten zu erstellen. Natürlich war kein Serienkiller geistig vollständig gesund, doch das hieß nicht, dass sie nicht den Unterschied zwischen Richtig und Falsch erkennen und von ihren Verbrechen hätten absehen können.

Wenn die Verteidigung auf unzurechnungsfähig plädierte, gab der Beschuldigte seine Taten zu, bestritt aber, dafür verantwortlich zu sein. Justin Black hatte von Anfang an darauf hingearbeitet, und sie hatte keinen Zweifel, dass er so weitermachen würde.

Autumn musste vorsichtig sein.

War der junge Mann, der hier vor ihr saß, unglaublich clever … oder einfach nur gestört? Hatten das Trauma der Ermordung seiner Eltern und Schwester – bislang war unsicher, wann Justin erfahren hatte, dass Winter überlebt hatte -, die Entführung und die Indoktrination durch einen Wahnsinnigen seine Psyche grundlegend gebrochen?

Wie könnte es anders sein?

Das erschien wie eine logische Schlussfolgerung, doch Autumn durfte sie nicht fraglos übernehmen.

Sie lächelte und schlug die Beine übereinander. Als sie Justins Blick bemerkte, war sie froh, dass sie eine Hose trug. „Justin, was wissen Sie noch von …“

Plötzlich verkrampfte sich ihr Nacken, und sie massierte die verspannte Stelle.

Justin registrierte ihre Beschwerden mit funkelndem Blick. Autumn beobachtete ihn, während sie den Daumen auf den Muskel drückte. Es schien beinahe so, als habe er den Krampf ausgelöst.

Nein. Das bildete sie sich bloß ein.

Dann musste sie an die Fähigkeiten von Justins Schwester denken. Nachdem Douglas Kilroy Winter auf den Kopf geschlagen hatte, war sie ins Koma gefallen. Als sie daraus erwachte, sah und wusste sie auf einmal Dinge, die normalerweise für sie unzugänglich gewesen wären. Hatte die Gehirnverletzung die Veränderung ausgelöst? Oder hatte Winter diese Gaben bereits besessen, und die Hirnverletzung hatte sie zum Vorschein gebracht?

Autumn lief ein kalter Schauder über den Rücken.

Verfügte Justin über ähnliche Fähigkeiten? Oder andere? Stärkere?

Justin schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief durch, als ringe er um Selbstbeherrschung. Das Geschaukel hatte nicht aufgehört, war jedoch langsamer geworden.

Sie räusperte sich. „Was wissen Sie noch von der Nacht, in der Sie entführt wurden?“

„Gerettet, meinen Sie wohl.“ Er wirkte vollkommen arglos. Glaubte er das wirklich?

„Können Sie mir mehr darüber erzählen? Inwiefern wurden Sie … gerettet?“

Unwillkürlich nahm sie wieder zur Psychologie Zuflucht. Irgendwann würde diese Information wichtig werden. Und wenn er tatsächlich glaubte, die Entführung durch einen Serienkiller sei seine Rettung gewesen, würde ihr das später helfen, seine mentale Stabilität einzuschätzen.

Justin senkte den Kopf und versuchte, sich den Daumen in den Mund zu schieben. Als er nicht drankam, wurde er gereizt und zerrte an den Fesseln.

„Lassen Sie mich gehen!“ Sie hatte mit der Reaktion gerechnet und zuckte nicht zusammen, obwohl er Speichel verspritzte. „Lassen Sie mich gehen!“

Als sich die Wärter hinter der Glasscheibe regten, hob sie abermals die Hand. „Justin, wir müssen jetzt nicht darüber reden. Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen ein bisschen von mir.“

Er beruhigte sich ein wenig, was sie als Aufforderung nahm, fortzufahren. Es war eine lange Geschichte, und sie war sich nicht sicher, ob sie darüber sprechen wollte, doch irgendetwas musste sie preisgeben.

„Mein Realitätsempfinden wurde ursprünglich von einem missbräuchlichen Vater geprägt. Er schlug mich auf den Kopf, und ich prallte gegen einen Tisch. Ich hatte eine schwere Hirnschwellung und musste operiert werden.“

Justin starrte sie an, und sie konnte erkennen, dass ihre Geschichte ihn enttäuscht hatte. „Und das soll Ihr Realitätsempfinden geprägt haben? Ein Schlag auf den Kopf?“

„In gewisser Hinsicht.“ Autumn hob die Hände. „Manche Leute glauben, Gewalt existiere nicht, oder Menschen, die einem nahestehen, könnten nicht gewalttätig werden. Ich habe das nie geglaubt. Entscheidender war, wie es nach meiner Genesung weiterging. Ich kam zu einer Pflegefamilie, und man erwartete von mir, dass ich mich anpasste. Ich weiß, wie es ist, wenn man endlich von Menschen akzeptiert wird, die einen lieben. Die letzte Familie, die mich aufnahm, hat mich adoptiert und als ihre eigene Tochter behandelt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Realität sich mit jedem Umzug ändert. Und ich weiß, wie es sich anfühlt, endlich ein sicheres Zuhause zu finden. Nicht jeder hat dieses Glück.“

Justin musterte sie unverwandt mit seinen blauen Augen. „Und …?“

Sie seufzte. Jetzt konnte sie ihm auch noch den Rest erzählen. Vielleicht nützte es ja etwas, wenn sie eine Gemeinsamkeit hatten.

„Und … ja. Auch meine Wirklichkeit wurde von einem Serienkiller beeinflusst. Die Neurochirurgin, die mein Gehirn repariert hat, war eine. Sie hat mir einen Tracker in den Bauch implantiert, damit sie mich überwachen konnte. Sie wollte mich studieren, und ich glaube, irgendwann hätte sie mich umgebracht wie so viele andere. Sie wollte anschließend mein Gehirn sezieren, um herauszufinden, welche interessanten Veränderungen meine Verletzung hervorgebracht hatte.“

Justin beugte sich so weit vor, wie die Fesseln es erlaubten. „Was für Veränderungen? Persönlichkeitsveränderungen?“

„Man könnte sagen, dass ich besonders empfängliche Sinne habe. Zum Beispiel ein extrem empfindliches Gehör.“

Autumns Operation hatte noch andere Auswirkungen gehabt. Seitdem verfügte sie über eine unerklärliche Gabe, die zur Folge hatte, dass sie emotional und physisch Distanz zu anderen Menschen hielt.

Immer wenn sie jemanden berührte, bekam sie einen intuitiven Eindruck von der jeweiligen Person. Manchmal ging dies einher mit einer bestimmten Ahnung – die sich jedes Mal als zutreffend erwies. Dann wieder hatte sie eine kurze Vision bezüglich der Vergangenheit des Betreffenden. Ob diese Visionen ‚real’ waren oder lediglich Ausdruck einer übersteigerten Intuition, vermochte sie nicht zu sagen.

Das brauchte Justin Black nicht zu wissen.

Justin wollte sich am Kinn reiben, wurde von der kurzen Verbindungskette der Handschellen aber daran gehindert. „Vielleicht hat Kilroy mit mir etwas Ähnliches gemacht.“

Autumn verspürte erneut einen heftigen Schmerz im Nacken, doch sie widerstand dem Drang, an der Stelle zu reiben. „Es geht mir darum, dass die Tragödien der Vergangenheit nicht unbedingt über die Zukunft entscheiden. Man muss sich abfinden mit seiner Vorgeschichte und sich darüber erheben, auch wenn man sie nie ganz abschütteln kann. Wie zum Beispiel Ihre Schwester Winter …“

Sie brach ab. Justins Augen füllten sich mit Tränen, und anscheinend fiel ihm das Sprechen schwer. „Ich wollte kein schlechter Mensch sein. Ich hab es doch gut gemeint. Wie kann jemand, der es gut meint, dermaßen auf Abwege geraten?“

Autumn hätte ihn gern getröstet, doch man hatte sie davor gewarnt, sich Justin zu nähern. Andernfalls werde man die Unterhaltung sofort beenden und weitere Besuche unterbinden. Sie durfte nicht einmal seine Hand berühren.

Stattdessen gab sie dem Schmerz nach und drückte die Fingerspitzen auf die verhärteten Nackenmuskeln. „Das passiert häufiger, als Sie denken.“

„Ich hasse mich“, sagte Justin. Tränen strömten ihm über die bleichen Wangen.

Ob er ihr etwas vorspielte oder nicht, er rührte Autumn. Um der Wärter willen bemühte sie sich, eine professionelle Miene beizubehalten und ihre wahren Gefühle zu verbergen. „In gewisser Weise ist das ein gutes Zeichen. Wenn Sie mit Ihrer derzeitigen Verfassung unzufrieden sind, können Sie anfangen, etwas daran zu ändern.“

Justin versuchte den Kopf auf die Hände zu legen. Wegen der Fesseln gelang es ihm nicht. Seine Schultern bebten.

„Es tut mir leid“, schluchzte er.

„Justin, ich werde mit Ihnen arbeiten. Ich weiß nicht, was wir erreichen können, aber ich werde versuchen, Ihnen dabei zu helfen, mit sich ins Reine zu kommen.“

Mit niedergeschlagenem Blick murmelte er: „Aber nicht freizukommen.“

Sie schüttelte den Kopf, dann wurde ihr bewusst, dass er sie gerade nicht sah. „Darüber wird man beizeiten befinden, aber machen Sie sich bitte bewusst, dass Sie immer noch die Möglichkeit haben, ein produktives Leben zu führen.“

„Was bedeutet ein produktives Leben für jemanden im Knast?“ Justin hob ein wenig den Kopf, um seine Lippen spielte ein spöttisches Grinsen. „Autoschilder prägen?“

„Es ist bestimmt nicht leicht für Sie, nicht zynisch zu werden. Aber Sie können im Gefängnis studieren. Dante hat im Gefängnis Bücher verfasst. Oscar Wilde auch.“

Justin verzog angewidert das Gesicht.

Das war so komisch, dass Autumn beinahe gelächelt hätte. „Sie müssen kein Buch schreiben oder studieren, aber ich denke, Sie haben verstanden, was ich meine. Das Leben geht weiter. Sie können den Rest Ihres Lebens über geistig und emotional unter Douglas Kilroys Fuchtel leben, oder Sie raffen sich auf und wachsen.“

Justin holte tief Luft. „Wenn ich nachts keine Albträume mehr hätte, das wäre schon was.“

Autumn seufzte erleichtert. Sie wollte ihn gerade nach seinen Albträumen fragen, als einer der Wärter an die Plexiglasscheibe klopfte und demonstrativ auf die Uhr sah.

„Wir müssen Schluss machen.“ Autumn bedauerte, dass sie heute nicht ausführlicher mit Justin sprechen konnte. „Mir kommt es so vor, als wäre die Zeit wie im Flug vergangen.

Justin legte die Hände zusammen. „Miss …“ Er räusperte sich. „Tut mir leid … ich hab Ihren Namen vergessen.“

„Dr. Trent.“

Er nickte. „Dr. Trent, ich danke Ihnen. Sie sind sehr freundlich. Verglichen mit den Leuten, mit denen ich in letzter Zeit zu tun hatte, sind Sie ein Engel.“

Engel hin oder her, sie fragte sich, ob er sie töten würde, wenn er die Möglichkeit dazu hätte. „Danke für das Kompliment.“

Die Wärter kamen herein, lösten Justins Fesseln vom Stuhl und führten ihn hinaus.

Als er an ihr vorbeiging, hätte Autumn ihn beinahe berührt. War sein Bedauern echt? Hätte sie Körperkontakt hergestellt, hätte sie diese Frage mit ihrer speziellen Gabe beantworten können. Im letzten Moment nahm sie jedoch davon Abstand, um die weiteren Sitzungen nicht zu gefährden.

Was zählte, war die Chance, ihm zu helfen.

Nachdem die Wärter ihn abgeführt hatten, musste Autumn noch darauf warten, dass jemand sie aus dem Sicherheitsbereich hinauseskortierte. Justin wurde als so gefährlich eingestuft, dass sie ihre Handtasche und alle anderen Gegenstände im Außenbereich hatte zurücklassen müssen.

Sie dachte an ihre Halbschwester Sarah. Als sie sie zum letzten Mal gesehen hatte, war sie neun und Sarah sieben gewesen. Autumn war zu einer Pflegefamilie gekommen, Sarah zu ihrem biologischen Vater, dem das volle Sorgerecht übertragen wurde. Er hatte versprochen, sich bei Autumn zu melden, doch das hatte er nie getan.

Da ihr Leben mit dem neuen Job bei Shadley und Latham jetzt in ruhigeren Bahnen verlief, machte sie sich Gedanken, wie sie Sarah aufspüren könnte.

Bald würde sie es angehen.

In der Zwischenzeit würde sie mit Justin arbeiten. Vielleicht würde sie ja zu ihm durchdringen. Vielleicht könnte sie ihm helfen.

Sie seufzte und massierte sich den Nacken.

Selbst dann, wenn es sie umbrachte.

Justin nahm auf seiner Pritsche Embryonalhaltung ein und steckte sich den Daumen in den Mund. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie die Wärter hinausgingen.

Was für ein Spaß.

Soweit sich das sagen ließ, war er bei der Psychologin heute ein ganzes Stück weitergekommen. Sie war eine der Frauen, die eine persönliche Verbindung herzustellen versuchten, damit ihre Patienten sich ‚öffneten’. Sie glaubte offenbar an Rudelbildung. Sie glaubte, sie strahle Selbstvertrauen aus und verfüge über eine starke Persönlichkeit. Dabei bettelte sie wie ein Hund nach Liebe und Aufmerksamkeit.

Sie wäre bestimmt geschockt, wenn ihr klar würde, dass er sie durchschaute.

Sie war ja so leicht zu manipulieren.

Leider hatte er den Eindruck, das Ganze werde letztendlich zu nichts führen. Sie würde die Geschworenen nicht davon überzeugen können, dass er zu verrückt war, um inhaftiert zu werden, oder dass es ungefährlich sei, ihn wieder in die Freiheit zu entlassen. Ursprünglich hatte er gehofft, entweder das eine oder das andere stünde in ihrer Macht. Jetzt hatte er Zweifel, ob sie ihm überhaupt nützen würde.

Andererseits war es nett, jemanden zum Spielen zu haben.

Den Wärtern war das alles scheißegal. Sie redeten kein Wort mit ihm und wollten nichts mit ihm zu tun haben. Justin hatte vor, sie weiter zu bearbeiten, machte sich aber keine großen Hoffnungen. Die anderen Insassen waren auch nicht besser. Sie waren eher gefährlich und boten noch weniger Aussicht auf eine Flucht, sei es direkt oder indirekt. Bei ihnen anzusetzen, war zwecklos.

Was bedeutete, dass er bei der Psychologin immerhin die besten Aussichten hatte, irgendjemanden zu manipulieren. Und wenn er sie dazu brachte, ihn für verhandlungsunfähig zu erklären, würde man ihn in eine muckelige Irrenanstalt verlegen, aus der er bestimmt flüchten könnte.

So weit, so gut. Er würde auf ihr Spiel eingehen und den passenden Moment abwarten. Zu verlieren hatte er dabei nichts, außer vielleicht seiner Langeweile.

Vielleicht würde er dadurch Gelegenheit bekommen, ihrer Freundin, seiner Schwester, wehzutun. Seiner Halbschwester, verbesserte er sich.

Seiner schlechteren Hälfte.

Justin lächelte und drehte sich zur Wand, damit die Wärter, die ihn ständig im Auge behielten, nichts merkten.

Vorerst würde er mitspielen. Und warten.

Bis dass der Tod uns scheidet … noch nie war der Satz so wahr. Ausgestattet mit mehreren Uni-Abschlüssen und der Gabe einer machtvollen Intuition, nimmt die forensische Psychologin Dr. Autumn Trent es auf mit der ganzen Welt und ihren acht Milliarden Bewohnern. Sie ist bereit, für Gerechtigkeit zu kämpfen und Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen … denn sie weiß, wie es sich anfühlt, benachteiligt zu sein. Als Kind hatte ein brutaler Schlag ihres Vaters ihr Leben für immer verändert…Read More